Proseminar SoSe 2001: Ethischer Relativismus

Handout 14:
Gilbert Harmans Relativismus

 

I.   Moral Relativism Defended

(Philosophical Review 84 (1975), S. 3-22. Wiederabgedruckt in Harman, Explaining Value and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 2000, S. 3-19)

 

In diesem Aufsatz behauptet Harman, daß Moral entsteht, wenn Menschen eine implizite Vereinbarung über ihre Beziehungen zueinander erzielen. Bestimmte Moralurteile, die sogenannten inner judgments, sind deshalb wahr oder falsch nur relativ zu einer solchen Vereinbarung. Harman vertritt also eine Form des ethischen Relativismus.

 

Diesen ethischen Relativismus bezeichnet er als eine logische These, als These über die logische Form bestimmter Moralurteile: So wie das deskriptive Urteil, daß etwas groß ist, nur relativ zu einer Vergleichsklasse wahr oder falsch ist, ist das Moralurteil, daß es falsch von jemandem ist, eine bestimmte Handlung auszuführen, nur relativ zu einer Vereinbarung wahr oder falsch.

 

Eine Vereinbarung besteht, wenn jedes Mitglied einer bestimmten Gruppe beabsichtigt, sich an bestimmte Prinzipien zu halten, in der Annahme, daß die anderen Mitglieder dies auch beabsichtigen. Diese Vereinbarung muß nicht bewußt oder explizit sein.

 

Inner judgments:

Mit inner Judgments wird ein Akteur in Beziehung zu einer Handlung moralisch beurteilt.

Zu ihnen gehören Moralurteile der folgenden Art:

"Es war richtig/falsch von der Person, dies getan zu haben."

"Die Person hätte das (nicht) tun sollen."

"Es war falsch von Hitler, die Vernichtung der Juden anzuordnen."

 

Keine inner judgments sind:

-    Moralurteile, mit denen zwar ein Akteur moralisch beurteilt wird, aber nicht in Beziehung zu einer Handlung.

Bsp.: "Diese Person ist böse", "Diese Person ist ein Verräter".

-    Moralurteile, mit denen zwar eine Situation oder eine Handlung moralisch beurteilt wird, aber nicht in Beziehung zu einem Akteur (dergestalt, daß es richtig/falsch war von diesem Akteur, die Situation herbei- oder die Handlung auszuführen).

Bsp.: "Diese Handlung war falsch", "Diese Handlung hätte nicht ausgeführt werden sollen".

 

In inner judgments verwenden wir das moralische "sollte tun" bzw. "falsch": "Es ist (moralisch) falsch von ihnen, das zu tun".

In non-inner judgments verwenden wir das normative "sollte sein" bzw. "falsch": "Es ist eine schlechte Sache, daß sie das tun".

 

Inner judgments haben zwei wichtige Eigenschaften:

1. Sie implizieren, daß die handelnde Person Gründe hat, eine Handlung auszuführen.

2. Der Sprecher teilt diese Gründe (und nimmt an, daß auch die Zuhörer diese Gründe teilen).

 

Wenn eine Person S ein inner judgment fällt, indem sie sagt, daß eine Person A die Handlung D tun soll, impliziert S, daß A Gründe hat, D zu tun und daß S diese Gründe teilt. (Wenn S dagegen sagt, daß B böse war in dem was er tat, impliziert er nicht, daß die Gründe, die S dafür hat, nicht zu tun, was B tat, für B Gründe waren, dies nicht zu tun. Im Gegenteil, S impliziert, daß seine Gründe keine Gründe für B waren.)

Die Quelle dieser Gründe liegt in den Werten, Zielen, Wünschen oder Absichten von A. S teilt mit A diese Werte, Ziele, Wünsche oder Absichten und teilt deshalb auch As Gründe.

Es gibt also bestimmte motivierende Einstellungen M, von denen S annimmt, daß er sie mit A (und den Zuhörern) teilt.

 

Das inner judgment "A soll die Handlung D ausführen" lautet daher vollständig:

"Mit den motivierenden Einstellungen M und unter den Bedingungen C, soll A die Handlung D ausführen."

Dies bedeutet: "Mit den motivierenden Einstellungen M und unter den Bedingungen C, ist D diejenige Handlung für A, die von den besten Gründen gestützt wird."

 

Die motivierenden Einstellungen M bestehen in der Absicht, sich an eine Vereinbarung zu halten. Wenn daher S das inner judgment fällt, daß A D tun soll, nimmt S an, daß A beabsichtigt, sich an eine Vereinbarung zu halten, von der auch S beabsichtigt, sich daran zu halten. Die Quelle der Gründe, D zu tun, die S A zuschreibt, liegt also in As Absicht, sich an eine Vereinbarung zu halten.

 

Die Behauptung, daß die motivierenden Einstellungen M aus einer Vereinbarung resultieren, ist eine Hypothese, die bestimmte Aspekte unserer Moral erklärt, die andernfalls nicht erklärt werden könnten. Sie erklärt insbesondere, warum es in unserer Moral wichtiger ist, anderen nicht zu schaden, als Hilfsbedürftigen zu helfen.

 

RelativistInnen glauben, daß verschiedene Personen in Abhängigkeit von den Moralvorstellungen, die sie akzeptieren, Gründe haben, verschiedene moralische Forderungen zu erfüllen. RelativistInnen fällen daher inner judgments über eine Person nur, wenn sie glauben, daß diese Person Gründe hat, von den relevanten moralischen Überlegungen, motiviert zu sein. Über eine Person, von der wir glauben, daß sie keine solchen Gründe hat, fällen wir keine inner judgments, sondern andere Moralurteile. Inner judgments über solch eine Person zu fällen, wäre seltsam oder ein Mißbrauch der Sprache. Inner judgments über bestimmte Personen sind seltsam, wenn die beurteilten Personen den relevanten moralischen Überlegungen nicht zugänglich sind und nicht von ihnen motiviert werden können. Seltsam wären z. B. folgende inner judgments über Hitler: "Hitler hätte die Vernichtung der Juden nicht anordnen sollen", "Es war moralisch falsch von Hitler, die Vernichtung der Juden anzuordnen". Dagegen wäre es nicht seltsam, zu sagen: "Was Hitler tat, war falsch", "Die Vernichtung der Juden hätte nie passieren sollen". Wir können also nach Harman urteilen, daß das, was Hitler tat, moralisch falsch war, ohne damit zu implizieren, daß Hitler einen Grund hatte, das, was er tat, nicht zu tun.

 

 

II. Is There a Single True Morality?

(in Morality, Reason and Truth. New Essays on the Foundations of Ethics, hrsg. von David Copp und David Zimmermann, Totowa, N. J., S. 27-48. Wiederabgedruckt in Harman, Explaining Value and Other Essays in Moral Philosophy, Oxford 2000, S. 77-99)

 

Die Streitfrage zwischen Absolutismus und Relativismus lautet: Gibt es eine einzige wahre Moral?

 

Absolutismus:

Es gibt eine einzige Moral, die für jede Person gilt.

Das heißt, es gibt moralische Forderungen, die zu befolgen jede Person einen hinreichenden Grund hat, und diese moralischen Forderungen sind die Quelle aller moralischen Gründe.

 

Harman betrachtet den Absolutismus (und den Relativismus) als eine Ansicht über die moralischen Gründe, die Menschen haben, bestimmte Handlungen auszuführen:

Zu sagen, daß es ein moralisches Gesetz gibt, das für jede Person gilt, bedeutet, daß jede Person einen hinreichenden Grund hat, dieses Gesetz zu befolgen.

Eine Überzeugung über absolute Werte ist eine Überzeugung, daß es Dinge gibt, von denen jeder Grund hat, sie zu wollen oder zu erhoffen.

 

Relativismus:

Es gibt keine universell gültigen moralischen Forderungen.

Verschiedene Menschen unterliegen verschiedenen grundlegenden moralischen Forderungen in Abhängigkeit von den Gewohnheiten, Praktiken, Konventionen, Werten und Prinzipien, die sie akzeptieren.

 

Argument für den Relativismus:

1.    Eine Person hat einen hinreichenden Grund, eine Handlung auszuführen, genau dann, wenn es eine gerechtfertigte (warranted) Überlegung gibt, die diese Person durchführen könnte und die sie dazu bringt, sich zu entscheiden, die Handlung auszuführen.

Eine Person mit einem hinreichenden Grund, eine Handlung auszuführen, führt diese Überlegung nur dann nicht durch, wenn sie empirisch feststellbare Defekte aufweist.

Wenn eine Person nicht beabsichtigt, eine Handlung auszuführen und dies nicht auf solch einen empirisch feststellbaren Defekt zurückgeführt werden kann, kann die Person keinen hinreichenden Grund dafür haben, die Handlung auszuführen.

 

2.    Es gibt Personen, die sich nicht an bestimmte Moralprinzipien halten, wobei dies nicht auf solche empirisch feststellbaren Mängel zurückgeführt werden kann.

 

3.    => Es gibt Personen, die keinen hinreichenden Grund und folglich keinen hinreichenden moralischen Grund haben, sich an bestimmte Moralprinzipien zu halten.

 

4.    Für jedes Moralprinzip gilt, daß es Personen gibt, die keinen hinreichenden Grund haben, sich daran zu halten.

 

5.    => Es gibt kein universell gültiges, d. h. für alle Personen gültiges Moralprinzip.

 

 

Harman unterscheidet zwei Herangehensweisen an die Ethik, von denen die erste eher zum Relativismus und die zweite eher zum Absolutismus führt:

 

1. Naturalismus:

Wir müssen uns darauf konzentrieren, den Platz von Werten und Pflichten in der durch die Wissenschaften erkannten Welt der Tatsachen zu finden.

 

NaturalistInnen sind der Ansicht, daß sie die beste Erklärung dafür geben können, warum wir die moralischen Überzeugungen haben, die wir tatsächlich haben: (vgl. hierzu Harman, Das Wesen der Moral, Kap. 1)

 

Tatsachenüberzeugungen: Die Tatsache, daß wir bestimmte Tatsachenüberzeugungen haben, kann am besten dadurch erklärt werden, daß wir mit einer Welt von uns unabhängiger Gegenstände interagieren. Unsere Tatsachenüberzeugungen liefern also einen Beleg dafür, daß es eine von uns unabhängige Welt von Gegenständen gibt.

 

Moralische Überzeugungen: Die Tatsache, daß wir bestimmte moralische Überzeugungen haben, kann vollständig erklärt werden durch unsere Erziehung und unsere Psychologie; die Annahme eines unabhängigen Reiches von Werten und Pflichten ist dafür nicht notwendig. Unsere moralischen Überzeugungen liefern also keinen Beleg für solch ein unabhängiges Reich von Werten und Pflichten und wir haben daher die Wahl zwischen Skeptizismus, Nonkognitivismus und Relativismus.

 

2. Autonome Ethik:

Die Frage, welcher Platz sich für Werte und Pflichten in der Welt der Tatsachen finden läßt, kann in der Ethik ignoriert werden.

 

 

Literaturhinweise:

Vgl. Handout 13

 



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