Jörg Schroth Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit

Jörg Schroth
Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit
Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006), S. 37-58.

Einleitung
Mögliche Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus Verteilungsgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit ist kein Gut, sondern ein Prinzip des Rechten
Welfarismus und Verteilungsgerechtigkeit sind miteinander vereinbar
Maximierung und Verteilungsgerechtigkeit sind miteinander vereinbar
Verteilungsgerechtigkeit und die Begründung des Utilitarismus
Schluß

Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit1

Einleitung

Ein Standardeinwand gegen den Utilitarismus ist, daß er der Verteilungsgerechtigkeit keine bzw. nicht genügend Bedeutung schenkt: Er zielt auf die Maximierung der Gesamtsumme des Guten und ist gegenüber der Art der Verteilung des Guten gleichgültig. Die meisten Utilitaristen haben diesen Einwand ernst genommen und viel Mühe darauf verwendet, ihn zu entkräften. Woran liegt es aber, daß der Utilitarismus Schwierigkeiten mit der Verteilungsgerechtigkeit hat? Auf den ersten Blick scheint es natürlich am Maximierungsprinzip zu liegen, da Maximierung und Rücksicht auf gerechte Verteilung sich auszuschließen scheinen. Darüber hinaus scheint Verteilungsgerechtigkeit auch von dem für den Utilitarismus typischen Welfarismus (oder Hedonismus)2 ausgeschlossen zu werden: Wenn Wohlergehen das einzige intrinsisch wertvolle Gut ist, bleibt kein Platz mehr für Verteilungsgerechtigkeit als weiteres Gut. Verteilungsgerechtigkeit scheint also mit dem Utilitarismus unvereinbar zu sein, weil sie sowohl mit der utilitaristischen Theorie des Rechten als auch mit der utilitaristischen Theorie des Guten unvereinbar scheint. Neben dem Welfarismus und dem Maximierungsprinzip ist der Konsequentialismus die dritte wesentliche Komponente des Utilitarismus. Er besagt, daß die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung nur von ihren Konsequenzen abhängt. Der Konsequentialismus bereitet jedoch keine Probleme für Verteilungsgerechtigkeit, da die Verteilung von Gütern auch zu den Konsequenzen einer Handlung zählt. Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus sind die drei wesentlichen und plausibelsten Komponenten des Utilitarismus sowie diejenigen, aus denen er unmittelbar zu folgen scheint: Mit diesen drei Komponenten begründet man gewöhnlich den Utilitarismus,3 und wer sie akzeptiert, scheint damit bereits dem Utilitarismus verpflichtet zu sein.

In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, daß entgegen der allgemein geteilten Ansicht weder der Welfarismus noch das Maximierungsprinzip Verteilungsgerechtigkeit ausschließt. Akzeptiert man dies, ergeben sich folgende Konsequenzen:

  1. Da der Utilitarismus nicht aus dem Welfarismus, Maximierungsgebot und Konsequentialismus folgt, kann man alle drei Komponenten akzeptieren und dennoch den Utilitarismus ablehnen. Der Verweis auf die Plausibilität von Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus ist zur Begründung des Utilitarismus daher wertlos.
  2. Man kann somit den Utilitarismus ablehnen, obwohl man dessen plausibelste Komponenten, die als stärkste Argumente für den Utilitarismus gelten, akzeptiert.4
  3. Da die vermeintlich stärksten Gründe für den Utilitarismus ihn in keiner Weise stützen, verliert der Utilitarismus seine Grundlage und bleibt eine Begründung schuldig. Die Berufung auf moralische Intuitionen hilft dem Utilitarismus nicht weiter. Gerade dasjenige, was Utilitaristen an ihrer Theorie für intuitiv besonders einleuchtend halten – Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus –, schließt Verteilungsgerechtigkeit nicht aus. Da sich außerdem nicht leugnen läßt, daß unsere moralischen Intuitionen die Berücksichtigung von Verteilungsgerechtigkeit fordern,5 müßten Utilitaristen zur Begründung ihrer Theorie eine moralische Intuition finden, die mit Verteilungsgerechtigkeit unvereinbar und gleichzeitig überzeugender ist als die für Verteilungsgerechtigkeit sprechende Intuition.
  4. Da die plausibelsten Gründe für den Utilitarismus nicht zu dessen Begründung hinreichen, gibt es nichts mehr, was für ihn spricht, und keinen Grund mehr, ihn zu vertreten. (Seine vermeintliche Plausibilität beruht nur auf der irrigen Meinung, daß er eine unmittelbare Folge plausibler Annahmen ist.)
  5. Das Paradox, daß der Utilitarismus einerseits auf sehr plausiblen Annahmen zu beruhen scheint, andererseits aber mit dem Ausschluß von Verteilungsgerechtigkeit eine sehr unplausible Eigenschaft besitzt, läßt sich nun leicht durch den Hinweis auflösen, daß diese unplausible Eigenschaft nicht aus den plausiblen Annahmen folgt. Man steht daher nicht mehr vor dem Dilemma, entweder diese plausiblen Annahmen oder die ebenso plausible Verteilungsgerechtigkeit aufgeben zu müssen. Statt dessen sollte man sowohl an den plausiblen Annahmen als auch an der Verteilungsgerechtigkeit festhalten und dafür den Utilitarismus aufgeben.
  6. Geht man also davon aus, daß Verteilungsgerechtigkeit in unseren moralischen Überzeugungen eine große Bedeutung zukommt, sprechen alle Argumente, die zur Begründung des Utilitarismus angeführt werden, in Wirklichkeit für einen distributionssensitiven Konsequentialismus. Alles, was am Utilitarismus attraktiv erscheint, ist auch im distributionssensitiven Konsequentialismus gegeben, der aber darüber hinaus unseren Intuitionen über Verteilungsgerechtigkeit gerecht wird. Etwas schwächer ausgedrückt: Entgegen der landläufigen Meinung ist es nicht so, daß bestimmte plausible Annahmen zunächst zum Utilitarismus führen und die Einbeziehung von Verteilungsgerechtigkeit eine (nachträgliche) Abweichung dieser Standardtheorie ist, die eigens begründet werden müßte. Da Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus Verteilungsgerechtigkeit weder ausschließen noch implizieren, ist die Frage der Verteilungsgerechtigkeit allein unter Annahme dieser Prämissen gänzlich unentschieden. Es gibt daher keinen Grund, den Utilitarismus als natürliche Folge dieser Prämissen zu betrachten und die Einbeziehung von Verteilungsgerechtigkeit als Abweichung davon. Vielmehr sind beide Wege, für oder gegen Verteilungsgerechtigkeit, gleichermaßen begründungsbedürftig. So gesehen scheint sogar eher der Utilitarismus als eine besonders zu begründende Abweichung, da er eine tief verwurzelte moralische Intuition über die Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit aufgibt. Man benötigt wahrscheinlich mehr Argumente, um Verteilungsgerechtigkeit auszuschließen als um sie einzuschließen.6

Abschließend ist noch eine Bemerkung zur Terminologie nötig: Die Unvereinbarkeit mit Verteilungsgerechtigkeit wird oft als untrennbar zum Utilitarismus gehörend betrachtet, so daß jede Theorie, die Verteilungsgerechtigkeit berücksichtigt, nicht mehr als utilitaristisch bezeichnet wird. Andere verwenden den Begriff weniger eng und lassen auch einen Gerechtigkeitsutilitarismus zu.7 Da der Utilitarismus aber traditionell mit dem Ausschluß von Gerechtigkeitserwägungen assoziiert wird, werde ich den Utilitarismus ausschließlich im ersten Sinn verstehen (und habe daher oben von einem distributionssensitiven Konsequentialismus anstatt von einem Gerechtigkeitsutilitarismus gesprochen). Der Utilitarismus in diesem Sinn fällt unter die allgemeinere Kategorie der konsequentialistischen Theorien (und könnte daher auch als distributionsinsensitiver Konsequentialismus bezeichnet werden).8 Welche Terminologie man bevorzugt, spielt keine Rolle. In der von mir bevorzugten Terminologie folgt aus meiner Argumentation, daß die üblichen Argumente für den Utilitarismus nicht zu dessen Begründung hinreichen, da aus ihnen nicht der Ausschluß der Verteilungsgerechtigkeit folgt. In der anderen Terminologie lautet die Folgerung, daß entgegen der üblichen Meinung der Utilitarismus problemlos mit Verteilungsgerechtigkeit vereinbar ist.

Mögliche Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus Verteilungsgerechtigkeit

Wie fast jede ethische Theorie besteht der Utilitarismus aus einer Theorie des Guten und einer Theorie des Rechten. Die Theorie des Rechten bestimmt, welche Handlungen richtig oder falsch, geboten oder verboten sind. Die utilitaristische Theorie des Rechten ist sehr einfach und besagt nur, daß das Rechte in der Maximierung des Guten besteht. Die Theorie des Guten bestimmt, was das Gute ist, das maximiert werden soll. Gemäß dem klassischen Utilitarismus ist das zu maximierende Gute Glück bzw. Freude, oder in neueren Varianten Wohlergehen oder die Erfüllung von Präferenzen. Charakteristisch für den Utilitarismus ist, daß seine Theorie des Guten eine Theorie des nicht-moralisch (außermoralisch) Guten ist. Freude z. B. ist ein nicht-moralisches Gut und der Hedonismus eine Theorie des nicht-moralisch Guten, ebenso ist Wohlergehen ein nicht-moralisches Gut und der Welfarismus eine Theorie des nicht-moralisch Guten. Die utilitaristische Theorie des Rechten muß daher genauer so formuliert werden: Das Rechte besteht in der Maximierung des nicht-moralisch Guten.9

Woran liegt es nun, daß Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit als unvereinbar gelten?10 Die Gründe, die dafür in Frage kommen, lassen sich in drei Kategorien einteilen: (i) Gründe, unter der Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit nur als Gut verstanden werden kann, (ii) Gründe unter der spezielleren Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit nur als moralisches Gut verstanden werden kann und schließlich (iii) Gründe unter der Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit nicht als Gut, sondern als ein Prinzip des Rechten verstanden werden muß.11

Mögliche Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit unter der Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit als Gut verstanden wird:

(1)  Der naheliegendste Grund liegt darin, daß Utilitaristen in der Regel eine Theorie des Guten vertreten, in der Verteilungsgerechtigkeit nicht als intrinsisches Gut anerkannt wird. Beispielsweise ist im Hedonismus pleasure bzw. Lust oder Freude und im Welfarismus Wohlergehen das einzig intrinsisch wertvolle Gut. Wenn Verteilungsgerechtigkeit nur als Gut verstanden werden kann, aber von der jeweils vertretenen Theorie des Guten nicht als solches anerkannt wird, kann sie im Utilitarismus keine Rolle spielen.

(2)  Oft wird auf die mathematische Unmöglichkeit verwiesen, mehr als ein Gut zu maximieren. Utilitaristen müssen also eine monistische Theorie des Guten vertreten und können nicht zusätzlich zu Freude oder Wohlergehen noch Verteilungsgerechtigkeit als zu maximierendes Gut in ihre Theorie des Guten aufnehmen.12

Mögliche Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit unter der Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit als moralisches Gut verstanden wird:

(3)  Als moralisches Gut scheint Verteilungsgerechtigkeit schon per definitionem vom Utilitarismus ausgeschlossen zu werden, da die utilitaristische Theorie des Guten eine Theorie des nicht-moralisch Guten ist.13 Was aber ist der Grund für die Beschränkung des Utilitarismus auf die Maximierung des nicht-moralisch Guten?

(3a)  Ein Grund könnte darin liegen, daß die Aufnahme moralischer Güter in das zu maximierende Gute die Theorie zirkulär machen würde. Frankena beispielsweise behauptete, daß im Utilitarismus die moralische Qualität von Handlungen nur von dem nicht-moralischen Wert dessen, was sie herbeiführen, abhängen kann, denn: “For the moral quality or value of something to depend on the moral value of whatever it promotes would be circular.” (Frankena 1973, 14) Warum wäre es zirkulär, wenn die moralische Qualität einer Handlung (also ihre Richtigkeit oder Falschheit) vom moralischen Wert ihrer Konsequenzen (also von der moralischen Gutheit oder Schlechtheit der Konsequenzen) abhängen würde? Wäre es zirkulär anzunehmen, daß eine Handlung richtig ist, wenn sie ein moralisches Gut wie Gerechtigkeit maximiert? Es scheint tatsächlich ein Zirkel vorzuliegen, wenn man zunächst annimmt, daß der moralische Wert einer Konsequenz vom Rechten abhängt und dann behauptet, daß das Rechte vom moralischen Wert der Konsequenz abhängt. Wenn das moralisch Gute vom Rechten abhängig ist (d. h. wenn nur unter Voraussetzung einer Vorstellung des Rechten bestimmt werden kann, was als moralisches Gut zählt), und wenn das Rechte nur in der Forderung besteht, das moralisch Gute zu maximieren, ist es unmöglich zu wissen, was man maximieren soll. Wenn das moralisch Gute nicht unabhängig vom Rechten identifizierbar ist und das Rechte nur in der Forderung besteht, das moralisch Gute zu maximieren, ist die Theorie zirkulär und kann weder Gerechtigkeit noch irgendein anderes Gut als moralisches Gut identifizieren. Wenn das Rechte dagegen in der Forderung besteht, das nicht-moralisch Gute zu maximieren, weiß man aufgrund der vom Rechten unabhängigen Theorie des nicht-moralisch Guten, was man maximieren soll (z. B. Wohlergehen).

(3b)  Ein weiterer Grund für den Ausschluß moralischer Güter aus der utilitaristischen Theorie des Guten liegt in einer bestimmten Begründungsweise des Utilitarismus. Gemäß dieser Begründungsweise beginnen wir, ohne irgendwelche moralischen Überzeugungen vorauszusetzen, und fragen uns, was der Sinn und Zweck moralischer Ge- und Verbote ist. Wenn sie überhaupt einen Zweck haben – so die Antwort –, kann dieser nur darin bestehen, der Förderung des Guten zu dienen.14 Da wir aber noch keine moralischen Überzeugungen voraussetzen (und daher keine Vorstellung vom moralisch Guten haben können), kann das Gute, das die Moral fördern soll, nur das nicht-moralisch Gute sein: Wenn die einzige moralische Überlegung darin besteht, daß moralische Gebote dazu dienen, das Gute zu fördern, kann das zu fördernde Gute keine moralischen Güter enthalten, da zur Identifizierung moralischer Güter weitere moralische Annahmen notwendig wären, die bei dieser Begründung des Utilitarismus nicht zur Verfügung stehen.

(3c)  Als typische Eigenschaft des Utilitarismus gilt der Vorrang des Guten vor dem Rechten. Der Vorrang des Guten bedeutet (gemäß einer Auffassung), daß die Prinzipien des Guten keine Prinzipien des Rechten voraussetzen, das Gute also bestimmt werden kann, ohne auf das Rechte Bezug nehmen zu müssen. Wenn man weiter annimmt, daß moralische Güter und speziell Verteilungsgerechtigkeit nicht unabhängig vom Rechten definiert sind und also Prinzipien des Rechten voraussetzen,15 folgt aus dem Vorrang des Guten der Ausschluß moralischer Güter aus der utilitaristischen Theorie des Guten.

(3d)  Die einzige moralische Intuition des Utilitarismus ist, daß das Rechte in der Maximierung des Guten besteht. Wenn dies die einzige moralische Intuition ist, kann aus den in (3a) und (3b) genannten Gründen das zu maximierende Gute nur das nicht-moralisch Gute sein.

Mögliche Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit unter der Annahme, daß Verteilungsgerechtigkeit ein Prinzip des Rechten ist (und nicht zur Theorie des Guten gehört):

(4)  Der Utilitarismus kennt nur ein einziges Prinzip des Rechten: das Maximierungsprinzip. Das Maximierungsprinzip selbst ist unvereinbar mit Verteilungsgerechtigkeit, und da es das einzige Prinzip des Rechten ist, kann es nicht zusätzlich noch ein Prinzip des Rechten geben, das Verteilungsgerechtigkeit fordert. Mögliche Gründe dafür, daß das Maximierungsprinzip das einzige utilitaristische Prinzip des Rechten ist, wurden schon genannt:

(a) Sinn und Zweck der Moral kann nur die Förderung des Guten sein. (Vgl. 3b)

(b) Es gibt nur eine einzige moralische Intuition, auf der der Utilitarismus beruht, nämlich, daß das Rechte in der Maximierung des Guten besteht.

 Warum aber ist das utilitaristische Prinzip des Rechten ein Maximierungsprinzip? Zwei Gründe kommen in Frage:

(c) Maximierung ist ein Gebot der Rationalität: Wenn etwas ein Gut ist, ist es rational, es zu vermehren bzw. zu maximieren.

(d) Maximierung als moralische Intuition (wie b): Es ist eine moralische Intuition, daß das Rechte nur in der Maximierung des Guten besteht (und nicht etwa in dessen gerechter Verteilung).

(5)  Verteilungsgerechtigkeit als Prinzip des Rechten ist unvereinbar mit den wesentlichen Komponenten des Utilitarismus: Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung.

Auf die Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit, die auf der Annahme beruhen, daß Verteilungsgerechtigkeit ein Gut (bzw. moralisches Gut) ist, werde ich nicht näher eingehen, da sie, wie ich zu zeigen hoffe, auf einer falschen Voraussetzung beruhen.16 Verteilungsgerechtigkeit ist kein zur Theorie des Guten gehörendes Gut, sondern ein zur Theorie des Rechten gehörendes Prinzip des Rechten. Wenn Verteilungsgerechtigkeit zur Theorie des Rechten gehört, sind die Gründe für den Ausschluß der Verteilungsgerechtigkeit aus der Theorie des Guten gegenstandslos und keine Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit. Eine Unvereinbarkeit besteht nur dann, wenn Verteilungsgerechtigkeit mit der utilitaristischen Theorie des Rechten unvereinbar wäre.

Verteilungsgerechtigkeit ist kein Gut, sondern ein Prinzip des Rechten

Die Gründe dafür, Verteilungsgerechtigkeit als ein Prinzip des Rechten zu verstehen, laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß Verteilungsgerechtigkeit ein Prinzip von derselben Art ist wie das Prinzip der Maximierung der Gesamtsumme des Guten oder das Prinzip der Maximierung des Guten der am schlechtesten gestellten Personengruppe. Da die beiden letzten Prinzipien unbestritten Prinzipien des Rechten sind, ist auch Verteilungsgerechtigkeit ein Prinzip des Rechten.

Die gerechte Verteilung eines Guts ist eine Art des Umgangs mit einem Gut, ebenso wie die Maximierung (der Gesamtsumme) eines Guts oder die Maximierung des Guts der am schlechtesten gestellten Personengruppe eine Art des Umgangs mit einem Gut ist. Gerechte Verteilung und Maximierung des Guten sind verschiedene Arten des Umgangs mit dem Guten, gehören aber nicht selbst zum Guten. Dies ist offensichtlich und unbestritten im Fall von Rawls’ Differenzprinzip und dem utilitaristischen Maximierungsprinzip: Rawls’ Differenzprinzip ist Teil seiner Gerechtigkeitsprinzipien, die klarerweise seine Theorie des Rechten ausmachen und nicht seine Theorie des Guten. Ebenso ist die Maximierung der Gesamtsumme des Guten das utilitaristische Prinzip des Rechten und nicht Teil dessen Theorie des Guten. Warum sollte dann die gerechte Verteilung des Guten nicht zur Theorie des Rechten zählen, sondern als Gut verstanden werden? Wenn gerechte Verteilung als Gut verstanden wird, muß aus dem gleichen Grund die Maximierung der Gesamtsumme des Guten als Gut verstanden werden. Es gibt in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen gerechter Verteilung und Maximierung der Gesamtsumme des Guten. Behauptet man, daß man mit der gerechten Verteilung von Wohlergehen ein weiteres Gut neben Wohlergehen einführt, könnte man ebenso gut behaupten, daß die Maximierung der Gesamtsumme des Guten ein weiteres Gut neben Wohlergehen berücksichtigt, nämlich dessen Maximierung. Die Forderung, das Wohlergehen zu maximieren ist von gleicher Art wie die Forderung, das Wohlergehen gerecht zu verteilen: Beides sind moralische Forderungen, die uns anweisen, wie wir mit dem Wohlergehen umgehen sollen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß eine Forderung auf die Gesamtsumme, die andere auf die gerechte Verteilung abzielt. Wenn Wohlergehen ein Gut ist, muß man irgendwie mit diesem Gut umgehen und gerechte Verteilung und Maximierung der Gesamtsumme sind zwei mögliche Weisen des Umgangs mit Wohlergehen.

Gemäß einer gängigen Charakterisierung des Utilitarismus verlangt der Utilitarismus, stets den besten Zustand herbeizuführen. Man könnte nun denken, daß – wie das Wort „bester“ nahe legt – die Bestimmung des besten Zustands in den Bereich der Theorie des Guten fällt. Wenn daher der beste Zustand derjenige mit der gerechtesten Verteilung ist, muß Verteilungsgerechtigkeit am Ende doch ein Gut und daher aus den oben genannten Gründen unvereinbar mit dem Utilitarismus sein. Dieser Anschein trügt jedoch, denn das Ordnen der Zustände vom besten zum schlechtesten Zustand erfolgt nach Kriterien, die in der Theorie des Rechten aufgestellt werden. Zustände können von verschiedenen Standpunkten aus und nach verschiedenen Kriterien geordnet werden. Bei der Konstruktion ethischer Theorien suchen wir nach dem besten Zustand vom moralischen Standpunkt aus, und keine Theorie des nicht-moralisch Guten (wie der Welfarismus) kann bestimmen, was der beste Zustand vom moralischen Standpunkt aus ist. Der beste Zustand vom moralischen Standpunkt aus wird vielmehr durch die Theorie des Rechten bestimmt. Ob wir der Ansicht sind, daß der beste Zustand vom moralischen Standpunkt aus derjenige mit der gerechtesten Verteilung oder derjenige mit der größten Gesamtsumme des Wohlergehens ist, hängt von unserer Theorie des Rechten ab. Dies kann wieder an Rawls’ Differenzprinzip verdeutlicht werden: Obwohl dieses Prinzip eindeutig ein Prinzip des Rechten ist, können wir ihm gemäß Zustände ordnen und den besten Zustand bestimmen. Zur Veranschaulichung betrachte man die beiden folgenden Tabellen, von denen die erste den Nutzen der Personen P bis P in den Zuständen Z bis Z zeigt und die zweite verschiedene Rangordnungen dieser Zustände:

  Zustand Z1 Zustand Z2 Zustand Z3 Zustand Z4 Zustand Z5 Zustand Z6
Person P1 10 13 12 14 26 22
Person P2 10 13 12 14 9 9
Person P3 10 7 12 8 4 4
Person P4 5
30 33 36 36 39 40
10 11 12 12 13 10

Tabelle 1: Verschiedene Nutzenverteilungen

Standpunkt Kriterium Bester Zustand Schlechtester Zustand
Nicht-moralischer Standpunkt      
z. B. Standpunkt der Person P3 Persönlicher Nutzen Z1 Z5, Z6
Moralischer Standpunkt      
Klassischer Utilitarismus Größter Gesamtnutzen Z6 Z1
Durchschnittsnutzenutilitarismus Größter Durchschnittsnutzen Z5 Z1 ,Z6
(Strenger) Egalitarismus Gleiche Nutzenverteilung Z1, Z3 Z5
Rawls’ Differenzprinzip Größter Nutzen der am schlechtesten Gestellten Z3 Z5, Z6

Tabelle 2: Bester und schlechtester Zustand von verschiedenen Standpunkten aus

Mit der Theorie des Guten (also z. B. dem Welfarismus) gelangt man nur zur Tabelle 1. Sie enthält selbst keine Mittel, um einen der Zustände in Tabelle 1 als besten oder schlechtesten auszuzeichnen. Die Bestimmung des besten Zustands geht über die Theorie des Guten hinaus und hängt davon ab, ob wir von einem nicht-moralischen oder moralischen Standpunkt aus urteilen, und, falls letzteres, welche Theorie des Rechten wir zugrunde legen. Vertreter des klassischen Utilitarismus, des Durchschnittsnutzenutilitarismus, des Egalitarismus und des Differenzprinzips könnten alle z. B. mit dem Welfarismus die gleiche Theorie des Guten vertreten und Wohlergehen als einzig intrinsisch wertvolles Gut ansehen und nur aufgrund unterschiedlicher Theorien des Rechten die Zustände verschieden ordnen.

Ob diese Argumente dafür, Verteilungsgerechtigkeit als Prinzip des Rechten und nicht als Gut zu betrachten, überzeugend sind, muß natürlich der Leser bzw. die Leserin entscheiden. Jedoch möchte ich darauf hinweisen, daß die gegenteilige Ansicht, Verteilungsgerechtigkeit als Gut zu betrachten, meist ohne jegliche Begründung vertreten wird, als sei es selbstverständlich, daß Verteilungsgerechtigkeit nur als Gut verstanden werden kann. In einem kürzlich erschienenen Artikel z. B. schreibt Robert Shaver:

the argument for maximizing may be straightforward; anything other than maximizing seems to require admission of some other good.” (Shaver 2004, 250)

Ein weiteres Beispiel findet sich in Nils Holtugs Gegenüberstellung von outcome utilitarianism und outcome welfare egalitarianism:

Outcome utilitarianism
An outcome is better, the larger a sum of individual benefits it contains.

Outcome utilitarians hold that nothing but benefits has intrinsic value and then claim that the larger the sum of such value, the better. […]

Outcome welfare egalitarianism
An outcome is better, the more equal a distribution of individual benefits it contains.

It would be strange to deny that equality has intrinsic value according to outcome welfare egalitarianism. And so, on the assumption that welfarists take benefits to be the only such value, this principle is not compatible with welfarism. (Holtug 2003, 154)

Warum wäre es seltsam “to deny that equality has intrinsic value according to outcome welfare egalitarianism”? Man kann den outcome welfare egalitarianism (OE) analog zum outcome utilitarianism (OU) beschreiben:

OU:  “Outcome utilitarians hold that nothing but benefits has intrinsic value and then claim that the larger the sum of such value, the better.”

OE:  Outcome welfare egalitarians hold that nothing but benefits has intrinsic value and then claim the more equal the distribution of such value, the better.

Mir leuchtet nicht ein, warum die zweite Beschreibung seltsam sein sollte, die erste aber nicht. Entweder man spricht in beiden Fällen oder in keinem Fall etwas anderem neben Wohlergehen intrinsischen Wert zu.

Welfarismus und Verteilungsgerechtigkeit sind miteinander vereinbar

Welfarismus und Verteilungsgerechtigkeit gelten als unvereinbar. Als Theorie des Guten ist der Welfarismus jedoch nur mit Verteilungsgerechtigkeit als Gut unvereinbar. Er ist dagegen nicht unvereinbar mit Verteilungsgerechtigkeit verstanden als Prinzip des Rechten, da er als Theorie des (nicht-moralisch) Guten nicht den Inhalt einer Theorie des Rechten bestimmen kann und insbesondere aus ihm nicht folgt, daß das Rechte in der Maximierung des Guten besteht. Aber natürlich ist der Welfarismus nicht gänzlich irrelevant für den Inhalt der Theorie des Rechten. Aus ihm folgt, daß Wohlergehen das einzige Gut ist, das moralisch relevant ist. Kein anderes Gut außer Wohlergehen spielt irgendeine Rolle in moralischen Überlegungen und nur diejenigen Handlungskonsequenzen sind moralisch relevant, die das Wohlergehen von Menschen (und Tieren) beeinflussen. Obwohl aber der Welfarismus impliziert, daß Wohlergehen das einzig moralisch relevante Gut ist, impliziert er nichts darüber, wie man mit diesem Gut umgehen soll. Der Welfarismus kann weder vorschreiben, daß wir Wohlergehen maximieren sollen, noch, daß wir es (bzw. die Mittel dazu) gerecht verteilen sollen.17 Der Welfarismus impliziert nur dies für ethische Theorien: Diejenigen moralischen Forderungen (wie z. B. die Pflicht zur Wohltätigkeit), die sich in irgendeiner Weise auf das Gute beziehen, können sich nur auf Wohlergehen und kein anderes Gut darüber hinaus beziehen. In welcher Weise sie sich jedoch auf Wohlergehen beziehen und ob es (einige) moralische Forderungen geben könnte, die sich überhaupt nicht auf Wohlergehen (und das Gute) beziehen, kann nur durch eine Theorie des Rechten entschieden werden und nicht durch den Welfarismus. Ich wiederhole: Die einzige Konsequenz des Welfarismus für die Theorie des Rechten ist: Wenn Prinzipien des Rechten sich in irgendeiner Weise auf das Gute beziehen, müssen sie sich auf Wohlergehen beziehen. Ob sich (einige oder alle) Prinzipien des Rechten auf das Gute beziehen und wenn, in welcher Weise, muß der Welfarismus offen lassen.18 Der Welfarismus liefert also keinen Grund für den Ausschluß von Verteilungsgerechtigkeit, wenn diese als Prinzip des Rechten interpretiert wird.

Maximierung und Verteilungsgerechtigkeit sind miteinander vereinbar

Auch Maximierung und Verteilungsgerechtigkeit sind miteinander vereinbar. Die gegenteilige Ansicht beruht darauf, daß man nicht zwischen zwei Formen (bzw. Beschreibungen) der Maximierung unterscheidet, die allerdings beide zur Charakterisierung des Utilitarismus verwendet werden: Der Utilitarismus wird manchmal (wie auch in diesem Aufsatz zu Beginn des zweiten Abschnitts) charakterisiert als Gebot, das Gute zu maximieren, manchmal als Gebot, den besten Zustand herbeizuführen. Obwohl beide Gebote die Maximierung verlangen, müssen sie nicht auf dasselbe hinauslaufen. Wenn wir die Maximierung des Guten verlangen und mit dem Welfarismus annehmen, daß Wohlergehen das einzig intrinsisch Gute ist, müssen wir die Gesamtsumme des Wohlergehens maximieren und Verteilungsgerechtigkeit muß unberücksichtigt bleiben. Wenn wir jedoch verlangen, den besten Zustand herbeizuführen und wieder mit dem Welfarismus annehmen, daß Wohlergehen das einzig intrinsisch Gute ist, folgt daraus nicht, daß wir das Wohlergehen maximieren sollen, d. h. daß wir den Zustand mit der größten Gesamtmenge an Wohlergehen herbeiführen sollen. Da, wie in den letzten beiden Abschnitten gezeigt, der Welfarismus nicht bestimmen kann, welches der vom moralischen Standpunkt aus beste Zustand ist,19 könnte, selbst wenn Wohlergehen das einzig intrinsisch wertvolle Gut ist, der beste Zustand dennoch derjenige sein, in dem das Wohlergehen gerecht verteilt ist. Maximierung verlangt, daß wir den besten Zustand herbeiführen, sagt uns aber nicht, worin der beste Zustand besteht – es könnte der mit der gerechtesten Verteilung oder der mit der größten Gesamtmenge des Guten sein. Wenn man der Meinung ist, daß Maximierung ein Gebot der Rationalität ist, ist man dennoch nicht gezwungen, die Gesamtsumme des Wohlergehens zu maximieren. Rationalität und Maximierung verlangen nur, daß wir den besten Zustand hervorbringen, was auch immer der beste Zustand ist. Es besteht daher kein Konflikt zwischen Verteilungsgerechtigkeit und (dem Glauben an die Rationalität der) Maximierung.

Verteilungsgerechtigkeit und die Begründung des Utilitarismus

Bisher wurde wie folgt argumentiert: Verteilungsgerechtigkeit ist kein unter die Theorie des Guten fallendes Gut, sondern gehört als Prinzip des Rechten zur Theorie des Rechten. Die Gründe für die Unvereinbarkeit von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit, die auf der Annahme beruhen, daß Verteilungsgerechtigkeit ein Gut ist, sind daher gegenstandlos. Eine Unvereinbarkeit kann nur bestehen, wenn Verteilungsgerechtigkeit mit der utilitaristischen Theorie des Rechten unvereinbar ist bzw. wenn die Argumente zur Begründung des Utilitarismus auch die Unvereinbarkeit mit Verteilungsgerechtigkeit begründen. Die wesentlichen Komponenten des Utilitarismus sind Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus. Der Welfarismus gehört zur utilitaristischen Theorie des Guten und ist daher mit Verteilungsgerechtigkeit als Prinzip des Rechten vereinbar. Die Argumentation des letzten Abschnitts hat gezeigt, daß Verteilungsgerechtigkeit sogar mit dem Maximierungsprinzip vereinbar ist. Auch der Konsequentialismus, nach dem die Richtigkeit einer Handlung eine Funktion ihrer Konsequenzen ist, ist mit Verteilungsgerechtigkeit vereinbar, da die Verteilung des Guten natürlich auch zu den Konsequenzen einer Handlung zählt.

Die bisher gezogenen Schlußfolgerungen sollen nun auf William H. Shaws Begründung des Utilitarismus angewandt werden. Shaws Begründung wurde gewählt als ein typisches Beispiel für Argumente, die den Utilitarismus als natürliche Folge einiger intuitiv plausibler Annahmen darstellen. Die Analyse dieses Arguments soll zeigen, daß selbst wenn wir diese zur Begründung des Utilitarismus herangezogenen Annahmen akzeptieren, daraus dennoch nicht der Utilitarismus folgt.

Der “guiding impulse” des Utilitarismus ist nach Shaw:

human well-being or happiness is what really matters and, accordingly, the promotion of well-being is what morality is, or ought to be, all about. (Shaw 1999, 2)

Zwei grundlegende Ideen (“fundamental ideas that underlie utilitarianism”) bzw. ethische Kernideen (“core ethical ideas”) bilden nach Shaw die Grundlage des Utilitarismus:

first, that the results of our actions are the key to their moral evaluation, and second, that one should assess and compare those results in terms of the happiness or unhappiness they cause (or, more broadly, in terms of their impact on people’s well-being). (Shaw 1999, 2)
The first of these ideas is that morality is ultimately or fundamentally about the promotion of well-being. This is the specifically utilitarian version of the more general consequentialist contention that the morality of our actions is in some way or other a function of the goodness of their outcomes. The second core idea builds on the first, asserting further that we should act so as to bring about as much well-being as possible. This is the specifically utilitarian version of the general maximizing principle that an action is right if and only if it brings about the best outcome the agent could have brought about. Neither self-evident nor beyond rational criticism, these two theses are the foundation of utilitarianism. They represent the fundamental convictions or intuitions upon which the theory rests. (Shaw 1999, 95)

Shaws Argument für den Utilitarismus kann wie folgt rekonstruiert werden:

(1) Wohlergehen ist das einzig intrinsisch wertvolle Gut. (Welfarismus)

(2) Also: In der Moral geht es letztlich nur um die Förderung des Wohlergehens.

(3) Die Richtigkeit einer Handlung ist eine Funktion ihrer Folgen. (Konsequentialismus)

(4) Also (aus 1 und 3): Wir sollen diese Folgen hinsichtlich des Glücks oder Unglücks, das sie verursachen (oder allgemeiner, hinsichtlich ihres Einflusses auf das Wohlergehen) beurteilen.

(5) Eine Handlung ist richtig genau dann, wenn sie die besten Folgen hervorbringt, die ein Akteur hätte hervorbringen können. (Maximierung)

(6)  Also (aus 4 und 5): Wir sollen so handeln, daß wir so viel Wohlergehen wie möglich hervorbringen. (Utilitarismus)

Die utilitaristische Konklusion (6) ist unvereinbar mit Verteilungsgerechtigkeit. Wäre das Argument schlüssig, würde also aus Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung der (mit der Verteilungsgerechtigkeit unvereinbare) Utilitarismus folgen. Aus der Argumentation dieses Aufsatzes folgt jedoch, daß das Argument nicht hinreichend zu Begründung des Utilitarismus ist, selbst wenn man dessen Prämissen (1), (3) und (5) akzeptiert. Das heißt, selbst wenn man Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung akzeptiert, folgt daraus noch nicht der Utilitarismus. Nun zu den einzelnen Schritten in Shaws Argument:

Behauptung (2), daß es in der Moral letztlich nur um die Förderung des Wohlergehens geht, führt nur dann zum Utilitarismus, wenn mit ihr gemeint ist, daß die Förderung des Wohlergehens das einzige Ziel der Moral ist. Diese Behauptung ist jedoch nicht besonders plausibel (im Gegensatz zur Behauptung, daß die Förderung des Wohlergehens ein Ziel der Moral ist). Sie ist ebenso begründungsbedürftig wie der Utilitarismus selbst und kann daher nicht zu dessen Begründung herangezogen werden. Außerdem folgt (2) nicht aus (1), da eine Theorie des nicht-moralisch Guten (wie der Welfarismus) nicht bestimmen kann, worum es in der Moral geht. Aus dem Welfarismus folgt nur, daß Wohlergehen das einzig moralisch relevante Gut ist, nicht aber, wie man mit diesem Gut umgehen soll. Der Welfarismus ist mit einer Vielzahl ethischer Theorien vereinbar und liefert kein Argument für (2): Man kann ohne weiteres den Welfarismus akzeptieren und (2) ablehnen.

Shaws Begründung des Utilitarismus muß aber nicht auf (2) zurückgreifen. Es ist nicht klar, ob (2) irgendeine Rolle in seinem Argument spielt. Man könnte Shaw auch so interpretieren, daß er den Utilitarismus mit dem Welfarismus zusammen mit Konsequentialismus und Maximierung begründet. Aus dem Welfarismus und Konsequentialismus schließt Shaw, daß man die Handlungsfolgen hinsichtlich ihres Einflusses auf das Wohlergehen beurteilen soll (4). Dieser Schluß ist gültig, bedeutet aber nur, daß kein anderes Gut außer Wohlergehen moralisch relevant ist: Moralische Regeln oder Prinzipien und moralische Überlegungen darüber, was man tun soll, dürfen außer Wohlergehen kein anderes Gut berücksichtigen. Diese moralischen Überlegungen müssen jedoch nicht die Maximierung des Wohlergehens verlangen, sondern könnten auch dessen gerechte Verteilung fordern. Folglich begründet die (folgerichtig erschlossene) Behauptung (4), daß man die Handlungsfolgen hinsichtlich ihres Einflusses auf das Wohlergehen beurteilen soll, noch nicht den Utilitarismus, da sie noch nicht begründet, daß man das Wohlergehen maximieren soll bzw., daß der beste Zustand derjenige mit der größten Menge an Wohlergehen ist. Was folgt, wenn wir zu (4) die Maximierungsforderung (5), daß eine Handlung genau dann richtig ist, wenn sie die besten Folgen hervorbringt, hinzunehmen? Folgt daraus (6), daß wir so handeln sollen, daß wir so viel Wohlergehen wie möglich hervorbringen – womit der Utilitarismus begründet wäre? Nein, denn es kommt ganz darauf an, was als bestes Ergebnis zählt. Wenn wir die Maximierung des Wohlergehens fordern, ist das beste Ergebnis dasjenige mit der größten Menge an Wohlergehen. Wenn wir die gerechte Verteilung des Wohlergehens fordern, dann ist das beste Ergebnis dasjenige mit der gerechtesten Verteilung des Wohlergehens. Bis jetzt folgt keine dieser beiden Forderungen aus Shaws Argument (und keine wird durch es ausgeschlossen), und die obige Diskussion hat gezeigt, daß beide Forderungen mit dem Welfarismus vereinbar sind. Wenn der Utilitarismus also vor der Einführung von (5) nicht begründet war, wird er auch nicht durch die Hinzunahme der Maximierungsforderung begründet: Wir können maximieren, indem wir den besten Zustand herbeiführen, der wiederum als der Zustand mit der gerechtesten Verteilung bestimmt werden kann.

Ich schließe daher, daß Shaws Argument, so überzeugend es auf den ersten Blick erscheinen mag, den Utilitarismus nicht begründen kann. Man kann jede Prämisse seines Argumentes akzeptieren und dennoch seine Konklusion – den Utilitarismus – ablehnen. Um den Utilitarismus zu begründen, müßte Shaw noch eine zusätzliche Prämisse einführen, nämlich:

(5.1)  Die besten Folgen sind diejenigen mit der größten Menge an Wohlergehen.

Es ist diese Behauptung, die charakteristisch für den Utilitarismus ist und ihn von einem distributionssensitiven Konsequentialismus unterscheidet. Es ist aber auch gerade diese Behauptung, die nicht aus Shaws Argument und also aus der vermeintlichen Begründung des Utilitarismus folgt. Anstelle von (5.1) könnte man ebenso gut eine andere zusätzliche Prämisse einführen, z. B.:

(5.2) Die besten Folgen sind diejenigen mit der gerechtesten Verteilung des Wohlergehens.

Würde man in Shaws Argument (5.2) anstelle von (5.1) zusätzlich einfügen, würde das Argument nicht zum Utilitarismus (6) führen. Shaws Argument enthält also eine Lücke und erscheint nur deshalb überzeugend, weil man stillschweigend (5.1) voraussetzt. Da (5.1) nicht aus den vorangehenden Schritten in Shaws Argument folgt, bedarf es einer davon unabhängigen Begründung – ebenso wie (5.2). Eine oft anzutreffende Begründung für (5.1) beruft sich auf den einleuchtenden Gedanken, daß mehr eines Gutes besser ist als weniger:

Although hedonism does not entail sum-ranking, it is plausible that if pleasure and the absence of pain is the sole ultimate value, then since more of it is better than less, the value of states of affairs should be determined by the amount of happiness they contain. (Scanlon 2001, 40)

Daß mehr besser ist als weniger mag plausibel sein, sofern nur das Gut einer Person betroffen ist und Fragen der Verteilung nicht aufkommen. Falls Wohlergehen das einzige Gut ist, ist es sicherlich plausibel, daß es für jede Person besser ist, mehr Wohlergehen als weniger zu haben. Die Plausibilität dieses Gedankens überträgt sich aber nicht auf Fälle, in denen das Gut von mehr als einer Person betroffen ist. Man kann zustimmen, daß es für eine Person besser ist, mehr von einem Gut zu haben als weniger, aber dennoch der Meinung sein, daß, sobald mehrere Personen betroffen sind, der Zustand mit der größten Menge an Wohlergehen nicht der beste Zustand ist, wenn das Wohlergehen sehr ungleich verteilt ist. Der Slogan „mehr ist besser als weniger“ hat seine Berechtigung im Rahmen des levelling-down-Einwandes gegen den Egalitarismus und schließt einen strengen Egalitarismus aus, in dem ausschließlich die Gleichverteilung moralisch relevant ist. Er rechtfertigt aber keinen Einwand gegen einen distributionssensitiven Konsequentialismus oder einen Egalitarismus, der neben der Gleichverteilung auch die Menge des zu verteilenden Gutes berücksichtigt.

Wie auch immer es um die Plausibilität von (5.1) bestellt sein mag, der wichtige Punkt bleibt, daß es als zusätzliche Annahme neben Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung eingeführt werden muß, um zum Utilitarismus zu gelangen, und daß die üblichen Argumente für den Utilitarismus, die sich nur auf Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung stützen, den Utilitarismus nicht begründen können. Angesichts der Hartnäckigkeit des Gerechtigkeitseinwandes gegen den Utilitarismus kann man aber kaum behaupten, daß (5.1) eine intuitiv besonders einleuchtende Annahme ist.

Schluß

Das wichtigste Ergebnis dieses Aufsatzes ist, daß die plausibelsten Komponenten des Utilitarismus (Welfarismus, Konsequentialismus und Maximierung), die in der Regel herangezogen werden um ihn als eine intuitiv überzeugende Theorie darzustellen, tatsächlich nicht zur Begründung des Utilitarismus hinreichen, da sie nicht begründen können, daß der beste Zustand derjenige mit der größten Menge an nicht-moralisch Gutem ist und also nicht begründen können, daß wir diesen Zustand herbeiführen und damit die Gesamtsumme des nicht-moralisch Guten maximieren sollen. Diese Komponenten des Utilitarismus können nicht bestimmen, was der beste Zustand ist und lassen es daher völlig offen, ob man einen (distributionsinsensitiven) Utilitarismus oder einen distributionssensitiven Konsequentialismus akzeptieren soll. Da diese Entscheidung offen bleibt, trifft es nicht zu, daß der Utilitarismus die naheliegendere oder natürlichere Theorie ist und jede Abweichung davon und hin zu einer gerechteren Verteilung besonders begründet und gegen den Utilitarismus verteidigt werden müßte. Im Lichte unserer moralischen Überzeugungen und der Hartnäckigkeit des Gerechtigkeitseinwandes gegen den Utilitarismus scheint es eher umgekehrt zu sein: eine distributionssensitive Theorie ist die naheliegendere Theorie und jede Abweichung bedarf einer besonderen Begründung. Man benötigt mehr Argumente um Verteilungsgerechtigkeit auszuschließen als um sie einzuschließen. Die gewöhnlichen Argumente für den Utilitarismus sollten daher besser dafür verwandt werden, einen distributionssensitiven Konsequentialismus zu begründen.20

Literatur

Brülisauer, Bruno 1988: Moral und Konvention. Darstellung und Kritik ethischer Theorien, Frankfurt a. M.

Chappell, Tim/Crisp, Roger 1998: Utilitarianism, in: Edward Craig (Hg.), Routledge Encyclopedia of Philosophy, London, Vol. 9, 551–57.

Darwall, Stephen 2003: Introduction, in: Stephen Darwall (Hg.), Consequentialism, Oxford, 1–7.

Feldman, Fred 1995: Adjusting Utility for Justice: A Consequentialist Reply to the Objection from Justice, in: Philosophy and Phenomenological Research 55, 567–85.

Frankena, William K. 1973: Ethics, Second Edition, Englewood Cliffs, N. J.

Gesang, Bernward (Hg.) 1998: Gerechtigkeitsutilitarismus, Paderborn.

Holtug, Nils 2003: Welfarism – The Very Idea, in: Utilitas 15, 151–74.

Ott, Konrad 2001: Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg.

Rawls, John 1971: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975.

Scanlon, T. M. 2001: Sen and Consequentialism, in: Economics and Philosophy 17, 39–50.

Shaver, Robert 2004: The Appeal of Utilitarianism, in: Utilitas 16, 235–50.

Shaw, William H. 1999: Contemporary Ethics. Taking Account of Utilitarianism, Oxford.

Sumner, L. W. 1992: Two Theories of the Good, in: Social Philosophy and Policy 9 (2), 1–14.

Sumner, L. W. 1996: Welfare, Happiness, and Ethics, Oxford.

Trapp, Rainer W. 1988: “Nicht-klassischer“ Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.

Anmerkungen

1 Dieser Aufsatz wurde während meines Aufenthalts am Department of Philosophy der Universität Reading (GB) im Rahmen eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung verfaßt.

2 Ich werde im folgenden stellvertretend nur vom Welfarismus sprechen, meine Argumentation gilt jedoch auch für den hedonistischen Utilitarismus und den Präferenzutilitarismus.

3 Ein Beispiel einer solchen Begründung wird am Ende dieses Aufsatzes diskutiert. – Ein bemerkenswertes Phänomen ist, daß es nur wenige Argumente für den Utilitarismus gibt. Dieser Eindruck wird besonders deutlich in dem Artikel zum Utilitarismus in der Routledge Encyclopedia of Philosophy. In ihrem einleitenden Überblick behaupten die Autoren Chappell und Crisp, daß es viele Argumente für den Utilitarismus gibt, erwähnen aber nur drei: Mills und Hares Argumente, auf die sich heute so gut wie kein Utilitarist mehr stützt, sowie die intuitionistische Begründung: “To many, utilitarianism has just seemed, taken by itself, reasonable – so reasonable, indeed, that any attempt to prove it would probably rest on premises less secure than the conclusion.” (Chappell/Crisp 1998, 555) Viel üblicher als für den Utilitarismus zu argumentieren ist es, die Theorie einfach zu formulieren und gegen Einwände zu verteidigen.

4 Manche mögen keine dieser Komponenten für plausibel halten. Für den Zweck der Argumentation gestehe ich diesen Komponenten aber die von Utilitaristen angenommene Plausibilität zu. Meine Argumente ermöglichen denjenigen, die diese Komponenten für plausibel halten, an ihnen festzuhalten, ohne Verteilungsgerechtigkeit aufgeben zu müssen.

5 Nur so läßt sich die Hartnäckigkeit des Gerechtigkeitseinwandes gegen den Utilitarismus erklären.

6 In diesem Aufsatz geht es nur um das prinzipielle Verhältnis von Utilitarismus und Verteilungsgerechtigkeit und um den Nachweis der Vereinbarkeit von Welfarismus, Maximierung und Konsequentialismus mit Verteilungsgerechtigkeit. Zu diesem Zweck genügt ein intuitives Vorverständnis von Verteilungsgerechtigkeit.

7 Vgl. hierzu Trapp (1988) und Gesang (1998).

8 Auch der Begriff „Konsequentialismus“ wird in zweierlei Bedeutung gebraucht: In einem engeren Sinn bezeichnet er nur die Annahme, daß die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen nur von deren Konsequenzen abhängt. In diesem Sinn ist der Konsequentialismus eine Komponente des Utilitarismus, aber auch des Konsequentialismus im weiteren Sinn, der eine Klasse von Theorien bezeichnet, deren Kern der Konsequentialismus im engeren Sinn ist.

9 Ähnliche Formulierungen finden sich z. B. bei Brülisauer (1988, 120) und Ott (2001, 98).

10 Utilitaristen verweisen oft darauf, daß sie Verteilungsgerechtigkeit als instrumentelles Gut in ihrer Theorie berücksichtigen können. Auf Verteilungsgerechtigkeit als instrumentelles Gut werde ich in diesem Aufsatz nicht eingehen.

11 Die folgenden Gründe sind mögliche Gründe, von denen jeder für sich als hinreichend für den Ausschluß von Verteilungsgerechtigkeit gilt. Kein Utilitarist muß jedoch alle diese Gründe vertreten.

12 Eine monistische Theorie mit Verteilungsgerechtigkeit als einzig intrinsisch wertvollem Gut ist nicht denkbar. Gäbe es neben Verteilungsgerechtigkeit kein anderes intrinsisches Gut, gäbe es nichts zu verteilen.

13 In diesem Aufsatz kann ich die Unterscheidung zwischen moralischen und nicht-moralischen Gütern nicht näher begründen. Es ist eine intuitiv plausible Unterscheidung, die vielen Darstellungen des Utilitarismus und Konsequentialismus zugrunde liegt. Vgl. z. B., wie Darwall seine Charakterisierung des Konsequentialismus beginnt: 

  Consequentialism begins with the idea that there are values that are prior to morality. Even if there were no moral right and wrong, some things would still be good and others bad. The pain and suffering caused by a cataclysmic earthquake, for example, are bad things, regardless of any relation to vice or misconduct. They are bad things to happen, bad states of the world. […] Both the agent-relative and the agent-neutral disvalue of pain are independent of morality, […] so both are called “nonmoral.” […] A fundamental tenet on which all consequentialist moral theories agree is that the moral rightness and wrongness of acts is determined by the nonmoral value of relevant consequences. (Darwall 2003, 1f.)

14 Vgl. hierzu Sumner (1992, 1f.):

  Suppose that the ultimate point of ethics is to make the world a better place. If it is, we must face the question: better in what respect? If the good is prior to the right – that is, if the rationale for all requirements of the right is that they serve to further the good in one way or another – then what is this good? […]

  The idea that the unifying – and justifying – function of all of our ethical categories is ultimately to make our lives go better, or to make the world a better place, is one that I find utterly compelling. If that is not the point of the whole business of moral thinking, then I find it difficult to imagine what the point might be. What else could morality be for? And if it is not for anything – if it has no point – what claim can it have on our allegiance?

15 Dies ist beispielsweise Rawls’ Auffassung:

  Wird dagegen auch die Verteilung der Güter als ein Gut – vielleicht von höherer Ordnung – genommen, und empfiehlt uns die Theorie, möglichst viel Gutes hervorzubringen (wozu die Verteilung als Gut gehört), so liegt keine teleologische Auffassung im klassischen Sinne mehr vor. Nach intuitivem Verständnis fällt das Verteilungsproblem unter den Begriff des Rechten, und damit gibt es in der Theorie keine [vom Rechten] unabhängige Definition des Guten. (Rawls 1971, 43)

16 Ich werde daher auch nicht auf Versuche eingehen, den Gerechtigkeitseinwand gegen den Utilitarismus zu entkräften, indem man die utilitaristische Theorie des Guten modifiziert und den Welfarismus aufgibt, wie es z. B. Feldman (1995) tut.

17 Vgl. Sumner (1996, 222): “[w]elfarism does not itself imply any ethical goal, either aggregative or distributive; a fortiori, it does not imply equality of welfare as such a goal.” Aus demselben Grund impliziert er natürlich auch nicht die Maximierung als ein solches Ziel.

18 Natürlich wäre eine ethische Theorie, deren Prinzipien des Rechten sich in keiner Weise auf das Gute beziehen, sehr unplausibel.

19 Er kann allenfalls bestimmen, daß vom nicht-moralischen Standpunkt aus der Zustand mit der größten Menge an Wohlergehen der beste Zustand ist.

20 Mit diesem Satz will ich mich nicht für einen Konsequentialismus im Gegensatz zu deontologischen Theorien aussprechen. Es soll damit nur gesagt werden, daß ein distributionssensitiver Konsequentialismus plausibler ist als ein distributionsinsensitiver Utilitarismus.



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