Jörg Schroth Universalisierbarkeit und Partikularismus

Jörg Schroth
Universalisierbarkeit und Partikularismus,
in: Argument und Analyse. Ausgewählte Sektionsvorträge des 4. internationalen Kongresses der Gesellschaft für Analytische Philosophie, hrsg. von Ansgar Beckermann und Christian Nimtz, Paderborn: mentis 2002, S. 608–17.

 

Universalisierbarkeit und Partikularismus

In den letzten Jahren gewann mit dem Partikularismus eine ethische Position an Aufmerksamkeit, die Prinzipien für moralisches Argumentieren, Begründen und Entscheiden für nicht notwendig bzw. sogar hinderlich hält. Genaugenommen ist es dem Partikularismus zufolge gar nicht möglich, gültige Moralprinzipien zu begründen, da sich zu jedem vorgeschlagenen Prinzip Ausnahmen finden lassen. Was für oder gegen diese Ansicht spricht, soll hier jedoch nicht weiter thematisiert werden. Vielmehr geht es mir in diesem Vortrag nur um den Zusammenhang zwischen Partikularismus und Universalisierbarkeit.

Gemäß einer weit verbreiteten Auffassung impliziert die Universalisierbarkeit moralische Prinzipien. Nach Hare beispielsweise gilt: Wer ein singuläres Moralurteil äußert, legt sich damit – aufgrund der Universalisierbarkeit – eo ipso auf ein Moralprinzip fest. Wer das singuläre Moralurteil akzeptiert, das entsprechende Moralprinzip aber ablehnt, widerspricht sich selbst. In dem aus dem Moralurteil folgenden Prinzip liegt die Begründung des Moralurteils und mit der Festlegung auf ein Prinzip hat man sich auch darauf festgelegt, wie man andere ähnliche Situationen moralisch zu beurteilen hat. Die durch Universalisierung gewonnenen Moralprinzipien dienen also gleichermaßen der Begründung von Moralurteilen wie der Entscheidungsfindung in neuen Situationen. Gegen die so verstandene Universalisierbarkeit wenden sich die Partikularisten. Da sie moralische Prinzipien ablehnen, aber mit Hare die Auffassung teilen, die Universalisierbarkeit impliziere Moralprinzipien, halten sie Universalisierbarkeit und Partikularismus für unvereinbar und verwerfen die Universalisierbarkeit.

Das Besondere an dem Konflikt zwischen Universalisierbarkeit und Partikularismus liegt darin, daß das Universalisierbarkeitsprinzip als ein fundamentales Prinzip der Ethik gilt, das gut begründet ist und von kaum jemandem bestritten wird. (Strittig ist allenfalls dessen genaue Formulierung sowie dessen Relevanz für die Ethik.) So wird von dem Universalisierbarkeitsprinzip oft behauptet,

– es sei eine notwendige Bedingung für moralisches Argumentieren,
– es sei konstitutiv für die Sprache der Moral, so daß nicht-universalisierbare Urteile keine Moralurteile oder zumindest nicht begründbar seien,
– es sei eine analytische, begriffliche Wahrheit, die man nicht sinnvoll bestreiten könne.

Es mutet seltsam an, daß die Partikularisten ein Prinzip für falsch halten, von dem andere behaupten, es sei analytisch wahr und könne gar nicht bestritten werden. Hätten letztere recht, müßte der Partikularismus schon allein aus begrifflichen Gründen falsch sein, da er einem analytisch wahren Prinzip widerspäche. Diese Konsequenz ist jedoch kaum akzeptabel. Es ist eine schwierige und substantielle Frage, welche Rolle moralischen Prinzipien in der Ethik zukommt und ob moralische En­tscheidungen grundsätzlich mit Hilfe von Prinzipien oder ohne sie getroffen werden sollten. Auch für die partikularistische Ansicht, daß wir bei moralischen Überlegungen besser auf Prinzipien ver­zichten sollten, finden sich gute Gründe. Diese können nicht einfach aufgrund rein formaler Gesichtspunkte als ungültig erwiesen werden, da partikularistische Ethiken sicherlich mit der Sprache der Moral vereinbar sind. Sollte also das Universalisierbarkeitsprinzip tatsächlich den Partikularismus ausschließen, kann es nicht das formale, moralisch neutrale Prinzip sein, als das es von seinen Verfechtern gerne ausgegeben wird, sondern enthält bereits substantielle Annahmen, mit denen weit mehr behauptet wird, als sich durch Rekurs auf die formalen Eigenschaften der Sprache der Moral rechtfertigen läßt. Aus dieser Konstellation ergeben sich zwei mögliche Alternativen: Entweder das Universalisierbarkeitsprinzip ist tatsächlich analytisch wahr bzw. eine notwendige Bedingung für moralisches Argumentieren. Dann kann die Unvereinbarkeit zwischen Universalisierbarkeit und Partikularismus nur scheinbar bestehen und muß auf ein Mißverständnis der Universalisierbarkeit zurückzuführen sein. Oder Universalisierbarkeit und Partikularismus sind tatsächlich unvereinbar. Dann kann das Universalisierbarkeitsprinzip keine analytische Wahrheit und keine notwendige Bedingung für moralisches Argumentieren sein und es bleibt zu untersuchen, ob der Partikularismus oder das Universalisierbarkeitsprinzip richtig ist. Ich vertrete im folgenden die erste Alternative. Ich halte das Universalisierbarkeitsprinzip für eine notwendige Bedingung des moralischen Argumentierens und für vereinbar mit dem Partikularismus. Der Konflikt zwischen beiden besteht nur scheinbar. Da der Grund dieses Konflikts in der Behauptung liegt, die Universalisierbarkeit impliziere moralische Prinzipien, folgt, daß diese Behauptung – trotz ihrer weiten Verbreitung – falsch sein muß. Daß dem tatsächlich so ist, soll nun gezeigt werden.

Für die Auseinandersetzung mit dem Partikularismus sind folgende zwei Formen der Universalisierbarkeit relevant, die auch beide von Hare vertreten werden:

(UR) Wenn die Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die h in moralisch relevanter Hinsicht gleicht.

(US) Wenn die Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die h in allen nicht-moralischen Eigenschaften gleicht.

Das erste Prinzip hat Hare vor allem in Freiheit und Vernunft vertreten. Das zweite hat er zunächst in Die Sprache der Moral und später wieder in Moralisches Denken vertreten. Seitdem will er unter Universalisierbarkeit nur noch dieses zweite Prinzip verstanden wissen. Die beiden Prinzipien widersprechen sich jedoch nicht und man kann an beiden zugleich festhalten.

(UR) ist, wie man leicht sieht, analytisch wahr und kann daher auch von Partikularisten nicht geleugnet werden. Zwei in moralisch relevanter Hinsicht gleiche Handlungen sind auch in moralischer Hinsicht gleich. Wären sie nicht in moralischer Hinsicht gleich, so gäbe es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen ihnen und sie wären eben nicht in moralisch relevanter Hinsicht gleich. Man widerspräche sich selbst, würde man zugestehen, daß sich zwei Handlungen in moralisch relevanter Hinsicht gleichen, würde sie aber dennoch moralisch unterschiedlich beurteilen. Zwei in moralisch relevanter Hinsicht gleiche Handlungen können nicht unterschiedliche moralische Eigenschaften besitzen. Wenn also eine Handlung h eine bestimmte moralische Eigenschaft hat, hat auch jede andere Handlung, die h in moralisch relevanter Hinsicht gleicht, die gleiche moralische Eigenschaft. Moralprinzipien lassen sich aus (UR) nicht gewinnen. Hält z.  B. jemand eine Handlung h für falsch, weil sie eine Lüge ist, so folgt mit (UR) nur, daß auch jede Handlung falsch ist, die h in moralisch relevanter Hinsicht gleicht. Daraus folgt aber natürlich nicht das moralische Prinzip, daß jede Lüge falsch ist. Dieses Prinzip wäre unvereinbar mit dem Partikularismus, folgt aber nicht aus (UR). (UR) anzuerkennen ist daher kein Problem für die Partikularisten.

Anders als (UR) ist (US) nicht analytisch wahr. Es wird aber dennoch manchmal als begriffliche Wahrheit bezeichnet, da ohne es moralische Argumentation nicht möglich wäre. (US) ist gleichbedeutend mit der Aussage, daß moralische Eigenschaften auf nicht-moralischen Eigenschaften supervenieren. Gemäß der Definition der Supervenienz gilt:

Moralische Eigenschaften supervenieren auf nicht-moralischen Eigenschaften genau dann,
– wenn zwei beliebige Gegenstände, die die gleichen nicht-moralischen Eigen­schaften haben, auch die gleichen moralischen Eigenschaften haben, d.  h.
– wenn zwei beliebige Gegenstände, die hinsichtlich ihrer nicht-moralischen Eigen­schaften ununterscheidbar sind, auch hinsichtlich ihrer moralischen Eigen­schaften ununter­scheidbar sind, d.  h.

(Die übliche Unterscheidung zwischen schwacher und starker Supervenienz habe ich in dieser Definition außer acht gelassen, da sie für das Thema des Vortrags nicht von Bedeutung ist.) Die Supervenienz moralischer auf nicht-moralischen Eigenschaften ist nahezu unbestritten. Auch Jonathan Dancy, der bekannteste Vertreter des Partikularismus, hat nichts gegen sie und damit gegen (US) einzuwenden. Aus (US) folgen zwar tatsächlich Prinzipien, aber diese sind höchst trivial und können auch von Partikularisten bedenkenlos akzeptiert werden. Denn der Umstand, daß die aus (US) folgenden Prinzipien alle nicht-moralischen Eigenschaften von Handlungen mit einer moralischen Eigenschaft verknüpfen, führt dazu, daß sie nichts mit gewöhnlichen Moralprinzipien gemein haben. Man kann sie eigentlich nur in einem rein formalen Sinn – als universell quantifizierte Sätze – als Prinzipien bezeichnen. In den folgenden vier Eigenschaften unterscheiden sie sich von gewöhnlichen Moralprinzipien, wie sie die Partikularisten ablehnen:

1. Aufgrund der Vielzahl nicht-moralischer Eigenschaften von Handlungen sind die aus (US) folgenden Prinzipien im allgemeinen nicht formulierbar.

2. Da vollständige Gleichheit in den nicht-moralischen Eigenschaften zweier Handlungen nie vorliegt, treffen die Prinzipien praktisch nur auf den jeweils vorliegenden Fall zu und sind nicht auf ähnliche Fälle übertragbar. Man kann nicht ein einmal durch Universalisierung eines Moralurteils gewonnenes Prinzip als Handlungsanweisung bzw. Entscheidungshilfe in anderen Fällen einsetzen. Zukünftige moralische Entscheidungen sind durch diese Prinzipien in keiner Weise determiniert. Sie sind daher keine genuinen Moralprinzipien, da man darunter Prinzipien versteht, die nicht nur auf eine einzige Situation zutreffen, sondern vielmehr in einer Klasse einander ähnlicher Situationen die moralische Überlegung leiten können.

3. Aus dem letzten Punkt folgt unmittelbar, daß die aus (US) folgenden Prinzipien nicht Grundlage einer moralischen Entscheidung sein können in dem Sinn, daß die Entscheidung das Ergebnis der Anwendung eines Prinzips ist. Da die Prinzipien nur auf eine einzige Situation zutreffen, kann es keine anderen Entscheidungssituationen geben, an die man mit einem aus der Universalisierung gewonnenen Prinzip herangehen kann, um mit dessen Hilfe eine Entscheidung zu treffen. Dies gilt für jede Situation: Da gemäß der Universalisierbarkeit ein moralisches Prinzip aus einem Einzelurteil folgt, ist das aus der Universalisierung eines Einzelurteils folgende Prinzip abhängig von diesem Einzelurteil. Das Einzelurteil kann deshalb nicht seinerseits das Resultat der Anwendung des Prinzips sein. Da das Prinzip also in der vorliegenden Situation nicht angewendet worden ist und auch nicht in anderen Situationen angewendet werden kann, da es eben nur auf die gerade vorliegende Situation zutrifft, folgt, daß es in keiner Situation angewendet werden kann. Es gibt somit keine einzige Situation, in der man ein aus der Universalisierung eines Einzelurteils gewonnenes Prinzip anwenden könnte. Die Punkte (2) und (3) zeigen, daß die aus der Universalisierung folgenden Prinzipien nicht handlungsleitend sein können: Sie können keine Entscheidungs­hilfen oder -kriterien sein. Der nächste Punkt erweist diese Prinzipien darüber hinaus als untauglich zur nachträglichen Begründung einer Entscheidung bzw. eines Moralurteils.

4. Die aus (US) folgenden Prinzipien können nicht als Begründung für ein moralisches Einzelurteil in einem konkreten Fall aufgefaßt werden, da sie nicht darüber Aufschluß geben, warum eine Handlung richtig ist (bzw. für richtig gehalten wird). Eine Begründung greift aus der Vielzahl der nicht-moralischen Eigenschaften einer Handlung bestimmte Eigenschaften als moralisch relevant und als Grund für die Richtigkeit einer Handlung heraus. Die aus (US) folgenden Prinzipien leisten dies aber gerade nicht, da sie sich auf alle nicht-moralischen Eigenschaften beziehen und nicht zwischen moralisch relevanten und irrelevanten Eigenschaften unterscheiden. Sie können daher Moralurteile nicht begründen. Eine Begründung nennt nur die moralisch relevanten Eigenschaften und nicht alle Eigenschaften.

Aus (US) bzw. der Supervenienz moralischer Eigenschaften folgen also zwar Prinzipien, aber aufgrund der genannten Punkte sind sie keine echten Moralprinzipien in dem gewöhnlichen Verständnis, da sie weder Moralurteile begründen können noch als  auf verschiedene Situationen anwendbare Entscheidungskriterien dienen können. Die aus der Supervenienz bzw. Universalisierbarkeit folgenden Prinzipien können deshalb mit Recht als trivial bezeichnet werden: In der Praxis moralischen Urteilens und Entscheidens spielen sie keinerlei Rolle und können daher auch von Partikularisten akzeptiert werden.

Die bisherigen Überlegungen zeigen, daß kein Konflikt zwischen dem Partikularismus und der Universalisierbarkeit in Form von (UR) und (US) besteht. Zum Konflikt mit dem Partikularismus kommt es nur, wenn man die genannten Universalisierbarkeitsprinzipien mit folgendem Prinzip verwechselt:

(P) Wenn die Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die diejenigen nicht-moralischen Eigenschaften besitzt, aufgrund deren h richtig ist.

Tatsächlich richten sich Dancys Argumente gegen die Universalisierbarkeit ausschließlich gegen (P). Wäre dieses Prinzip richtig, würde man sich mit jedem Äußern eines singulären Moralurteils auf ein moralisches Prinzip festlegen, das die moralisch relevanten Eigenschaften herausgreift und das Moralurteil begründet. Hält man eine Handlung für richtig aufgrund ihrer Eigenschaften x1 und x2, muß man gemäß (P) jede Handlung für richtig halten, die die Eigenschaften x1 und x2 aufweist. Urteilt man z.  B., daß eine Handlung falsch war, weil sie eine Lüge war, wäre man aufgrund von (P) auf das Prinzip festgelegt, daß jede Lüge falsch ist. Dagegen wenden die Partikularisten zu recht ein, daß sich zu jedem Moralprinzip der Art „Jede Handlung mit den Eigenschaften x1 und x2 ist richtig“ Gegenbeispiele finden lassen. Denn es kann sein, daß eine andere Handlung zwar die Eigenschaften x1 und x2 besitzt, aber dennoch moralisch falsch ist, weil sie darüber hinaus noch weitere Eigenschaften besitzt, die die Handlung insgesamt falsch machen. Da diese Möglichkeit prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann, ist ein Schluß von einem singulären Moralurteil auf ein Moralprinzip nicht möglich. (P) ist also falsch. Identifiziert man (P) mit dem Universalisierbarkeitsprinzip, müßte dieses als widerlegt gelten. Diese Identifikation ist jedoch unberechtigt, da (P) weder aus (UR) noch aus (US) folgt. Dennoch werden diese Prinzipien oft miteinander verwechselt. Viele Autoren, darunter auch Hare, formulieren zunächst das Universalisierbarkeitsprinzip in Form von (UR) und interpretieren es anschließend im Sinn von (P).

Dieser Übergang von (UR) zu (P) vollzieht sich stets nach folgendem Muster: Zunächst wird mit (UR) angenommen, wenn eine Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die h in den (moralisch) relevanten Gesichtspunkten gleicht. Sodann wird erklärt, die relevanten Gesichtspunkte sind diejenigen Eigenschaften, aufgrund deren h richtig ist. Also sind alle Handlungen, die diejenigen Eigenschaften besitzen, aufgrund deren h richtig ist, ebenfalls richtig – sprich: es gilt (P). Dieser Schluß ist jedoch unvollständig und enthält eine falsche stillschweigende Prämisse. Sie lautet: Wenn eine Handlung h1 diejenigen nicht-moralischen Eigen­schaften besitzt, aufgrund deren h richtig ist, dann gleichen sich h und h1 in moralisch relevanter Hinsicht. (P) ergibt sich also als Folgerung aus dem richtigen (UR) und dieser falschen Prämisse:

(UR) Wenn die Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die h in moralisch relevanter Hinsicht gleicht.
(G) Zwei Handlungen h und h1 gleichen sich in moralisch relevanter Hinsicht, wenn h1 diejenigen nicht-moralischen Eigenschaften besitzt, aufgrund deren h richtig ist.
=> (P) Wenn die Handlung h richtig ist, so ist auch jede Handlung richtig, die diejenigen nicht-moralischen Eigenschaften besitzt, aufgrund deren h richtig ist.

Die Prämisse (G) ist falsch, weil die Handlung h1 neben denjenigen Eigenschaften, aufgrund deren h richtig ist, noch weitere moralisch relevante Eigenschaften haben kann und sich deshalb in moralisch relevanter Hinsicht von h unterscheiden kann. Daraus, daß h1 diejenigen moralisch relevanten Eigenschaften hat, aufgrund deren h richtig ist, läßt sich nicht schließen, daß h1 keine weiteren moralisch relevanten Eigenschaften hat, die (evtl.) die Handlung falsch machen. Also läßt sich nicht schließen, daß sich die beiden Handlungen in moralisch relevanter Hinsicht gleichen. Warum hält man die Prämisse dennoch für wahr? Wohl deshalb, weil man erstens davon ausgeht, wenn h1 diejenigen Eigenschaften besitzt, aufgrund deren h richtig ist, dann haben h und h1 die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften, und zweitens annimmt, wenn zwei Handlungen die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften haben, dann gleichen sie sich in moralisch relevanter Hinsicht. Der Fehler hierin liegt in dem Schluß von der Aussage, daß zwei Handlungen die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften besitzen, auf die Aussage, daß sie sich in moralisch relevanter Hinsicht gleichen. Die Ursache dieses Fehlschlusses bzw. der Verwechslung der beiden Aussagen ist wohl in einer Ambiguität der ersten Aussage zu suchen, der Aussage, daß die Handlung h die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften besitzt wie die Handlung h1. Einmal ist damit lediglich gemeint, daß diejenigen Eigenschaften, die bei h moralisch relevant sind, auch bei h1 vorkommen. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß h1 noch weitere moralisch relevante Eigenschaften besitzt, die bei h nicht vorkommen. Folglich kann man nicht schließen, daß h und h1 in moralisch relevanter Hinsicht gleich sind und also die gleiche moralische Eigenschaft haben. In einer anderen Deutung meint man dagegen, daß zwei Handlungen die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften besitzen, wenn h1 diejenigen Eigenschaften besitzt, die bei h moralisch relevant sind und keine weiteren moralisch relevanten Eigenschaften besitzt (die bei h nicht vorkommen). Nur in diesem Fall sind zwei Handlungen in moralisch relevanter Hinsicht gleich und haben die gleiche moralische Eigenschaft. Jedoch kann man daraus, daß h1 diejenigen Eigenschaften besitzt, die bei h moralisch relevant sind, nicht schließen, daß h und h1 die gleichen moralisch relevanten Eigenschaften im Sinn der zweiten Interpretation haben, d.  h. man kann nicht schließen, daß sich h und h1 in moralisch relevanter Hinsicht gleichen. (P) folgt also nicht aus (UR) und ist daher kein Universalisierbarkeitsprinzip.

Das folgende Beispiel soll zeigen, daß Dancys Argumente tatsächlich nur (P) treffen. In dem Abschnitt „Universalisierbarkeit als Waffe“ seines Buches Moral Reasons (Oxford 1993, 88–90) attackiert Dancy eine spezielle Art der Anwendung der Universalisierbarkeit, die seiner Ansicht nach darin besteht, mit ihrer Hilfe zu bestimmen, welche Eigenschaften von Handlungen (Personen etc.) moralisch relevant sind. Ein typisches Beispiel hierfür sieht er in folgender Argumentation:

Wir wollen herausfinden, ob es moralisch verwerflicher ist, eine Person zu töten, als sie sterben zu lassen. Zu diesem Zweck betrachten wir die folgenden beiden Situationen und fragen uns anschließend, ob wir eine Person bzw. Handlung für schlechter halten als die andere:

S1: Smith erbt ein großes Vermögen, falls sein sechsjähriger Cousin stirbt. Eines Tages, während sein Cousin gerade badet, schleicht sich Smith ins Badezimmer und ertränkt ihn.

S2: Jones erbt ein großes Vermögen, falls sein sechsjähriger Cousin stirbt. Eines Tages, während sein Cousin gerade badet, schleicht sich Jones ins Badezimmer, um ihn zu ertränken. Beim Eintreten sieht er, wie der Junge in der Badewanne ausrutscht, sich den Kopf anschlägt, ins Wasser fällt und ertrinkt. Jones sieht zu bis der Junge ertrunken ist.

Wahrscheinlich würden wir Smith und Jones als in gleichem Maße niederträchtig beurteilen und es nicht für einen moralisch relevanten Unterschied halten, daß Jones seinen Cousin sterben ließ, während Smith seinen Cousin tötete. Bis hierher hat Dancy noch keine Einwände, erst den nächsten Schritt des Arguments lehnt er ab: Da sich die beiden Situationen S1 und S2 in genau einer Hinsicht unterscheiden (Töten vs. Sterbenlassen), Smith und Jones aber moralisch gleich beurteilt werden, ist erwiesen, daß der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen nicht moralisch relevant ist. Damit ist jedoch nicht gemeint, daß dieser Unterschied nur in den betrachteten Situationen moralisch irrelevant ist, sondern vielmehr, daß ihm in keiner Situation moralische Relevanz zukommt: Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen hat keinerlei moralische Bedeutung.

Um die Falschheit dieses Arguments zu zeigen, konstruiert Dancy ein anderes Beispiel, in dem das gleiche Argumentationsmuster zu dem entgegengesetzten Ergebnis führt:

S3: Smith befindet sich in einer Situation, in der er nur die Wahl hat, ein Kind zu töten oder zwei Kinder sterben zu lassen. Obwohl dadurch doppelt so viele Kinder sterben, sollte Smith, so Dancy, die zwei Kinder sterben lassen. Dies kann aber nur damit gerechtfertigt werden, daß Töten verwerflicher ist als Sterbenlassen, womit erwiesen ist, daß der Unterschied zwischen beiden moralisch relevant ist. Wie im ersten Beispiel, ist damit gemeint, daß der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen nicht nur in der betrachteten Situation moralisch relevant ist, sondern in jeder Situation. Da im ersten Beispiel genau das Gegenteil begründet worden ist, ist diese Art zu argumentieren als Argumentationsmethode untauglich. Ihr Fehler liegt nach Dancy darin, die Kontextabhängigkeit der moralischen Relevanz von Eigenschaften nicht zu beachten. Es sei falsch zu glauben, daß eine Eigenschaft entweder in jeder Situation relevant ist oder in keiner. Eine Eigenschaft könne in einer Situation moralisch relevant, in einer anderen moralisch irrelevant sein.

Soweit Dancys Argument gegen die „Universalisierbarkeit als Waffe“. Wie leicht zu sehen ist, hängt der von ihm konstruierte Widerspruch daran, daß die moralische Irrelevanz des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen im ersten Beispiel und die moralische Relevanz dieses Unterschieds im zweiten Beispiel nicht nur auf die jeweilige Situation beschränkt bleiben, sondern in allen Situationen gelten sollen. Da sich das Argument gegen die Universalisier­bar­keit richtet, muß er diese Übertragung der moralischen Relevanz bzw. Irrelevanz nicht nur auf ähnliche Situationen, sondern sogar auf alle Situationen, für eine Konsequenz der Anwendung des Universalisierbarkeitsprinzips halten. Jedoch folgt diese Übertragung weder aus (US) noch aus (UR). (US), das auch Dancy akzeptiert, bezieht sich nur auf Situationen, die sich in allen nicht-moralischen Eigenschaften gleichen und erlaubt daher keinen Schluß auf andere Situationen. (UR) verlangt nur, daß man einen moralisch relevanten Unterschied benennen muß, wenn man zwei prima facie ähnliche Situationen bzw. Handlungen unterschiedlich moralisch beurteilt. Angewandt auf Dancys Beispiele heißt dies, daß man in dem Töten eines Kindes und dem Sterbenlassen zweier Kinder in S3 einen moralisch relevanten Unterschied sehen muß. Wenn man weiter das Sterbenlassen der zwei Kinder in S3 für richtig hält, das Sterbenlassen des Cousins in S2 aber für falsch, muß man auch hierfür einen moralisch relevanten Unterschied zwischen beiden Handlungen angeben (und begründen) können. Mehr verlangt (UR) nicht. Insbesondere folgt mit (UR) aus der moralischen Relevanz (Irrelevanz) des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen in einer bestimmten Situation nicht die moralische Relevanz (Irreleanz) dieses Unterschieds in jeder Situation. Ein solcher Schluß wäre nur durch die Anwendung von (P) zu rechtfertigen. Dancys Argumente gegen die Universalisierbarkeit richten sich also ausschließlich gegen (P). (P) ist jedoch keine legitime Interpretation der Universalisierbarkeit, da es weder aus (UR) noch aus (US) folgt, und daher ist Dancys Partikularismus problemlos mit der Universalisierbarkeit vereinbar.

Abschließend möchte ich noch kurz auf einen naheliegenden Einwand gegen (US) eingehen. Häufig wird gegen (US) vorgebracht, daß es keine zwei Handlungen gibt, die sich in allen nicht-moralischen Eigenschaften gleichen und (US) deshalb vollkommen trivial sei. Wenn es keine zwei Handlungen gibt, die sich in allen nicht-moralischen Eigenschaften gleichen, kann es niemals eine Handlung h1 geben, die man deshalb für richtig halten muß, weil man eine andere Handlung h für richtig hält. Strenggenommen kann man (US) gar nicht verletzen und es scheint völlig nutzlos zu sein. Dieser Schluß wäre aber voreilig. Zunächst sollte man sich daran er­innern, daß (US) die Supervenienz moralischer Eigenschaften auf nicht-moralischen Eigen­schaften ausdrückt. Dies bedeutet, daß die moralische Eigenschaft einer Handlung von den nicht-moralischen Eigenschaften der Handlung abhängt und ein Moralurteil deshalb nur durch Verweis auf bestimmte nicht-moralische Eigenschaften der beurteilten Handlung begründet werden kann. Aufgrund von (US) muß man, um ein Moralurteil zu begründen, auch begründen, daß bestimmte nicht-moralische Eigenschaften der Handlung moralisch relevant sind. Die Bedeutung von (US) ist deshalb unabhängig davon, ob es zwei Handlungen mit den gleichen nicht-moralischen Eigenschaften geben kann. Auch wenn es keine zwei Handlungen mit den gleichen nicht-moralischen Eigenschaften geben kann, verlangt (US) immerhin, daß man zur Begründung eines Moralurteils über eine Handlung die moralische Relevanz bestimmter nicht-moralischer Eigenschaften begründen muß. Allein schon deshalb ist (US) nicht trivial, sondern schafft vielmehr die Grundlage für moralisches Argumentieren. Welche nicht-moralischen Eigen­schaften moralisch relevant sind, wird natürlich nicht durch (US) selbst bestimmt, sondern durch die normative ethische Theorie bzw. die moralischen Überzeugungen, die man vertritt.

Selbst was den Vergleich zweier Handlungen angeht, ist (US) trotz der Unmöglichkeit zweier Handlungen mit den gleichen nicht-moralischen Eigenschaften nicht trivial. (US) besagt ja nicht nur, daß zwei Handlungen mit den gleichen nicht-moralischen Eigenschaften die gleiche moralische Eigenschaft haben, sondern auch umgekehrt, daß zwei Handlungen, die nicht die gleiche moralische Eigenschaft haben, sich in ihren nicht-moralischen Eigenschaften unterscheiden müssen. Obwohl sich zwei Handlungen immer in irgendwelchen nicht-moralischen Eigenschaften unterscheiden, genügt es nicht, sich zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Beurteilung zweier Handlungen darauf zu berufen, daß man (US) nicht verletzt, da die zwei Handlungen sich auf jeden Fall in einigen ihrer nicht-moralischen Eigenschaften unterscheiden. Will man die unterschiedliche Beurteilung zweier Handlungen begründen, muß man vielmehr (i) einen erkennbaren Unterschied in ihren nicht-moralischen Eigenschaften benennen und (ii) plausibel machen, daß dieser Unter­schied auch moralisch relevant ist und die unterschiedliche Beurteilung rechtfertigt. Hierin liegt die Bedeutung von (US) für die moralische Argumentation.

Sowohl für (UR) wie für (US) gilt, daß ihre Bedeutung nicht darin liegt, daß man durch sie gezwungen wäre, die moralische Beurteilung einer Handlung h auf eine ähnliche Handlung h1 zu übertragen. Für die Beurteilung von h1 ist die Universalisierbarkeit nicht erforderlich. Wenn ich h eine bestimmte moralische Eigenschaft zuschreibe, so wende ich meine moralischen Überzeugungen bzw. meine ethische Theorie auf h an und komme dadurch zu dem Moralurteil über h. Das gleiche Verfahren kann selbstverständlich auf h1 angewandt werden. Um h1 moralisch zu beurteilen, benötigt man kein Universalisierbarkeitsprinzip, mit dem man von h zu h1 übergeht, man kann h1 vielmehr direkt, ohne den Umweg über h moralisch beurteilen. Jede einzelne Handlung kann direkt beurteilt werden. Die Bedeutung der Universalisierbarkeit kommt erst zum Tragen, wenn man zwei offensichtlich ähnliche Handlungen moralisch unterschiedlich beurteilt. Für diesen Fall fordert die Universalisierbarkeit, einen moralisch relevanten Unterschied zwischen den Handlungen zu benennen. Sie eröffnet daher die Möglichkeit, für jede ungleiche Beurteilung eine Rechtfertigung zu verlangen und Inkonsistenzen in der Beurteilung von Handlungen aufzudecken. Die Rolle, die die Universalisierbarkeit in der moralischen Argumentation spielt, ist also zwar eingeschränkt, aber nicht trivial.



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