Jörg Schroth Über formale Gerechtigkeit

Jörg Schroth
Über formale Gerechtigkeit
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83 (1997), S. 483–505.

Abstract: The following paper presents an analysis and criticism of formal justice. Section one introduces the concept of formal justice as it is defined by Chaïm Perelman. According to Perelman, an action is formal just iff it follows from the application of a rule. Formal justice, thus defined, is generally held to be a necessary, but not sufficient, condition of (material) justice. In section two, after analysing the concept of a formal just action, it is argued that this thesis is either inconsistent (if applied to legal systems) or implausible or trivial (if applied to moral rules). Applied to legal systems, formal justice can only be either a necessary and sufficient condition of justice or neither necessary nor sufficient. In section three the principle of formal justice, which states that one ought to act according to a rule of (material) justice, is rejected. Section four analyses the supposed role of formal justice in the application of law and concludes that there is, in fact, no role for it to play. In section five it is maintained that there is no connection between formal justice and the requirement of equality in legislation. Sections six to eight show the difference between formal justice and (i) impartiality, (ii) treating like case alike, and (iii) universalisability, respectively. The overall conclusion is that formal justice is an entirely useless (and even dangerous) concept and should be given up. What formal justice was hoped to achieve, but cannot achieve, can precisely be achieved by the principle of treating like cases alike, i. e. the principle of universalisability.

Einleitung
1 Perelmans Definitionen der formalen Gerechtigkeit
2 Die formal gerechte Handlung
3 Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit
4 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendung
  4.1 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit
     4.1.1 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit bei Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum
     4.1.2 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit bei Gesetzen mit Entscheidungsspielraum
   4.2 Formale Gerechtigkeit und Billigkeit
   4.3 Formale Gerechtigkeit und Rechtsbruch
5 Formale Gerechtigkeit und Rechtsetzungsgleichheit
6 Formale Gerechtigkeit und Unparteilichkeit
7 Gleiche Fälle gleich behandeln
8 Formale Gerechtigkeit und Universalisierbarkeit
Schluß
Literaturverzeichnis
Anmerkungen

Über formale Gerechtigkeit

Einleitung

In ethischen und rechtsphilosophischen Schriften über Gerechtigkeit taucht immer wieder das Prinzip der formalen Gerechtigkeit auf. Jedoch ist es selten Gegenstand einer ausführlichen Erörterung. Meist begnügt man sich mit einem Verweis auf Perelmans „Studie über die Gerechtigkeit“ (1945) und hält das Prinzip im übrigen für eine unproblematische Minimalbedingung der Gerechtigkeit, die von allen akzeptiert wird, egal wie groß die Meinungsverschiedenheiten über inhaltliche Fragen der Gerechtigkeit auch sein mögen. Da auf Perelman stets nur hingewiesen wird, ohne daß auf seine Schrift näher eingegangen würde, erscheint eine Prüfung seiner Argumentation dringend notwendig. Dabei wird sich zeigen, daß formale Gerechtigkeit keine allen Gerechtigkeitskonzeptionen gemeinsame Minimalbedingung der Gerechtigkeit ist. Vielmehr enthält die Behauptung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit in der von Perelman nicht beachteten Konsequenz, daß Ausnahmen von Regeln prinzipiell ungerecht seien, selbst ein materiales Element, das durch keinerlei Argumente gestützt ist. Darüber hinaus erweist sich die Interpretation der formalen Gerechtigkeit als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit – und nur in dieser Interpretation könnte sie das allen Gerechtigkeitskonzeptionen gemeinsame Element sein – als inkonsistent (bezogen auf Rechtsordnungen) oder äußerst unplausibel bzw. trivial (bezogen auf Moralsysteme). Unabhängig davon ist formale Gerechtigkeit für die Rechtsanwendungsgleichheit ohne jede Relevanz. Je nachdem, wie man Gesetze mit Entscheidungsspielraum interpretiert, ist formale Gerechtigkeit für die Gewährleistung von Rechtsanwendungsgleichheit entweder überflüssig oder nicht ausreichend. In letzterem Fall kann Rechtsanwendungsgleichheit nur durch Rückgriff auf die fälschlicherweise oft mit der formalen Gerechtigkeit gleichgesetzten Prinzipien der Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit (bzw. Gleichbehandlung gleicher Fälle) gewährleistet werden. Der Begriff der formalen Gerechtigkeit ist aber nicht nur nutzlos, sondern auch gefährlich, da er häufig dazu dient, die Anwendung von Gesetzen selbst ungerechter Rechtsordnungen zu rechtfertigen. (Allerdings beruht diese Rechtfertigung auf einem Trugschluß. Selbst wenn formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit wäre, würde daraus nicht folgen, daß die Nichtanwendung bzw. Verletzung von Gesetzen ungerechter Rechtsordnungen ungerecht wäre – womit sich formale Gerechtigkeit abermals als ohne jede Relevanz erweist.)

1 Perelmans Definitionen der formalen Gerechtigkeit

In seiner Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit geht Perelman von den folgenden sechs Gerechtigkeitskonzeptionen aus (1945, 16–20): jedem das Gleiche, jedem gemäß seinen Verdiensten, jedem gemäß seinen Werken, jedem gemäß seinen Bedürfnissen, jedem gemäß seinem Rang, jedem gemäß dem ihm durch Gesetz Zugeteilten. Diese sechs „Formeln der konkreten Gerechtigkeit“ (28) seien miteinander unvereinbar (16).[2] Anstatt eine von ihnen als die einzig wahre auszuzeichnen, versucht er „das den verschiedenen Konzeptionen der Gerechtigkeit Gemeinsame aufzuspüren, um es zu formulieren“ (21):

Es muß eine Gerechtigkeitsformel gefunden werden, die den verschiedenen Konzeptionen [...] gemeinsam ist. Diese Formel muß [...] ein unbestimmtes Element enthalten, dessen Bestimmung bald durch die eine, bald durch die andere Gerechtigkeitskonzeption erbracht wird. Der gemeinsame Begriff liefert eine Definition der formalen oder abstrakten Gerechtigkeit: Dagegen stellt jede besondere oder konkrete Formulierung der Gerechtigkeit einen der unzähligen Werte der formalen Gerechtigkeit dar. (26f.)

Das allen Gerechtigkeitskonzeptionen Gemeinsame findet er in der Idee der Gleichheit:

Der Gerechtigkeitsbegriff suggeriert allen unvermeidlich die Vorstellung einer gewissen Gleichheit. Seit PLATON und ARISTOTELES über THOMAS VON AQUIN bis zu den zeitgenössischen Juristen, Ethikern und Philosophen sind alle über diesen Punkt einig. Die Gerechtigkeitsidee steckt also in einer gewissen Anwendung der Gleichheitsidee. Die ganze Aufgabe ist nun, diese Anwendung so zu definieren, daß sie, obgleich sie ja das gemeinsame Element der verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen festsetzt, auch ihre Divergenzen ausdrückt. (22f.)
Welcher Art auch immer ihre Uneinigkeit in anderer Hinsicht ist, so sind sich doch alle darin einig, daß gerecht sein eine gleiche Behandlung für alle Wesen bedeutet, die in bestimmter Hinsicht gleich sind, die dasselbe Charakteristikum aufweisen, welches als einziges in der Rechtspraxis zu berücksichtigen sei. (27f.)

Aus diesen Überlegungen gewinnt er seine ersten beiden Definitionen der formalen Gerechtigkeit:

Die formale oder abstrakte Gerechtigkeit läßt sich demnach definieren als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen. (28)
Jedem Angehörigen derselben Wesenskategorie die gleiche Sache. (30)

Die Forderung nach Gleichbehandlung von Wesen derselben Wesenskategorie lasse sich zurückführen auf die korrekte Anwendung einer Regel:

Nun, worauf gründet die Forderung nach gleicher Behandlung? Ganz einfach auf der Bestimmung, wie ein beliebiges Mitglied der Kategorie behandelt werden muß. Da jedes beliebige Mitglied der Kategorie unter die Regel fällt, sieht man sich, wenn man die Regel anwendet, veranlaßt, sie alle auf dieselbe Weise zu behandeln. [...] Die Tatsache, daß jeder das Gleiche erhält, ergibt sich ganz natürlich daraus, daß sie zu derselben Wesenskategorie gehören. Die Gleichheit der Behandlung ist nichts anderes als die logische Folge der Tatsache, daß man es mit Mitgliedern derselben Kategorie zu tun hat. Daraus ergibt sich, daß man keine Unterschiede zwischen ihnen macht und sie, indem man die formale Gerechtigkeit respektiert, auf dieselbe Weise behandelt. Der Regel gemäß handeln heißt, all‘ denen eine gleiche Behandlung gewähren, zwischen denen die Regel keine Unterschiede macht.
Daraus folgt, daß die Gleichbehandlung gemäß der formalen Gerechtigkeit nichts anderes ist, als die getreue Anwendung einer Regel der konkreten Gerechtigkeit, die bestimmt, wie die Mitglieder jeder Wesenskategorie behandelt werden müssen. [...]
Unsere Analyse zeigt, daß im Gegensatz zur allgemeinen Meinung der Gleichheitsbegriff nicht die Grundlage der Gerechtigkeit, auch nicht der formalen, bildet, sondern vielmehr die Tatsache der Anwendung einer Regel auf alle Mitglieder einer Wesenskategorie. Die Gleichheit der Behandlung ist nur eine logische Folge der Tatsache, daß man sich an die Regel hält. (54f.)

Hieraus ergibt sich schließlich eine dritte (zu den beiden anderen äquivalente) Definition der formalen Gerechtigkeit:

[G]erecht sein heißt eine Regel zu beachten, welche die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln. (58)

Die Zusammenhänge zwischen Gleichbehandlung, Regelanwendung und formaler Gerechtigkeit bleiben in Perelmans Argumentation verworren. Ist nun Gleichbehandlung oder Regelanwendung die Grundlage der formalen Gerechtigkeit? Einerseits behauptet er (im vorletzten Zitat), die Grundlage liege in der Regelanwendung und nicht in der Gleichbehandlung. Andererseits beginnt er seine Analyse mit der allen Gerechtigkeitskonzeptionen gemeinsamen Idee der Gleichheit und schreibt, daß

die formale Gerechtigkeit in dem Gefühl der Gleichheit begründet ist und nur durch die Anwendung logischer und gut definierter Regeln zum Ausdruck kommen kann. (64)

Dieser Widerspruch[3] könnte aufgelöst werden, wenn (absichtliche) Gleichbehandlung Regeln voraussetzen würde, die festlegen unter welchen Bedingungen und in welcher Hinsicht Individuen gleich behandelt werden sollten. Da nach Perelman aus der Regelanwendung die Gleichbehandlung folgt,[4] wären Gleichbehandlung und Regelanwendung extensional gleich und würden sich nur in ihrer Intension unterscheiden. Da der Begriff der formalen Gerechtigkeit aber aus einer Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs bzw. verschiedener Gerechtigkeitskonzeptionen hervorging und Gerechtigkeit intuitiv mit irgendeiner Form von Gleichheit assoziiert wird, könnte man die Idee der Gleichheit als grundlegend für formale Gerechtigkeit ansehen und Regelanwendung gewissermaßen als Operationalisierung dieser Idee auffassen.[5]

Anhand von Perelmans Argumentation lassen sich fünf Eigenschaften der formalen Gerechtigkeit unterscheiden:

1.  Regelbezug:  Formale Gerechtigkeit setzt eine Regel[6] (der konkreten Gerechtigkeit) voraus, die Individuen in bestimmte Kategorien einteilt und festlegt, wie die zu einer bestimmten Kategorie gehörigen Individuen behandelt werden sollen.

2.  Regelrelativität:  Formale Gerechtigkeit ist immer relativ zu der vorausgesetzten Regel, d.  h. ob eine Handlung formal gerecht ist, hängt davon ab, auf welche Regel man die Handlung bezieht.

3.  Regelanwendung:  Formale Gerechtigkeit besteht in der korrekten Anwendung einer Regel. Das heißt einerseits: Wenn man eine Regel korrekt anwendet, handelt man formal gerecht. Andererseits, aufgrund des Regelbezugs: Wenn man formal gerecht handelt, wendet man eine Regel korrekt an. Eine Handlung ist also formal gerecht genau dann, wenn sie aus der korrekten Anwendung einer Regel folgt.[7]

4.  Gleichbehandlung:  Formale Gerechtigkeit besteht in der Gleichbehandlung aller zu derselben Kategorie gehörigen Individuen.

5.  Wertneutralität: Formale Gerechtigkeit ist unabhängig vom Inhalt der vorausgesetzten Regel. Ob die vorausgesetzte Regel selbst gerecht ist oder nicht, spielt für die Frage nach der formalen Gerechtigkeit einer Handlung keine Rolle.

Das Formale der formalen Gerechtigkeit liegt darin, daß sie

alle Divergenzen bezüglich der konkreten Gerechtigkeit unberührt läßt. Diese Definition besagt nämlich weder, wann zwei Wesen derselben Wesenskategorie angehören, noch wie sie zu behandeln sind. [..] Unsere Definition der Gerechtigkeit ist also formal, da sie die für die Anwendung der Gerechtigkeit wesentlichen Kategorien nicht bestimmt.[8] (28)

Zur Bestimmung dieser Kategorien bedarf es Regeln der materialen[9] Gerechtigkeit:

Die Formulierung der konkreten Gerechtigkeit wird das Kriterium liefern, das uns ermöglicht zu bestimmen, wann zwei Wesen zu derselben Wesenskategorie gehören. Sie ist es auch, die uns angibt, wie im Prinzip jedes Mitglied dieser Kategorie behandelt werden muß. (53)
Die Formeln der konkreten Gerechtigkeit errichten oder implizieren Wesenskategorien, deren Mitglieder in einer gewissen, für alle gleichen Weise behandelt werden müssen. (68)

Da formale Gerechtigkeit das gemeinsame Element aller Gerechtigkeitskonzeptionen sein soll, kann sie sinnvollerweise nur als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit[10] interpretiert werden.[11]

Im Anschluß an Perelman wurde bisher unspezifisch von der formalen Gerechtigkeit gesprochen. Dabei ist nach seiner ersten Definition[12] die formale Gerechtigkeit ein Handlungsprinzip. Von diesem Handlungsprinzip zu unterscheiden ist die formal gerechte Handlung.[13] Wenn man seine dritte Definition der formalen Gerechtigkeit[14] als Gebot umformuliert, erhält man folgendes Prinzip der formalen Gerechtigkeit (PFG):

(PFG) Man soll gemäß einer Regel handeln, welche die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln.

Da eine Regel, die die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln, eine Regel der materialen Gerechtigkeit ist, kann PFG auch als PFG1 formuliert werden:

(PFG1) Man soll gemäß einer Regel der materialen Gerechtigkeit handeln.

Analog zu den beiden (äquivalenten) Prinzipien kann die formal gerechte Handlung definiert werden:

(FGH) Eine Handlung ist formal gerecht genau dann, wenn sie aus der Anwendung einer Regel folgt, welche die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln.[15]

(FGH1) Eine Handlung ist formal gerecht genau dann, wenn sie aus der Anwendung einer Regel der materialen Gerechtigkeit folgt.

Ausgehend von diesen Definitionen wird im nächsten Abschnitt die Behauptung untersucht, daß eine formal gerechte Handlung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer gerechten Handlung sei und anschließend (3), im Licht der gewonnenen Ergebnisse, das Prinzip der formalen Gerechtigkeit erörtert.

2 Die formal gerechte Handlung

Der Prüfung der Behauptung, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung einer gerechten Handlung sei, möchte ich zunächst einige allgemeine Bemerkungen zum Begriff der formal gerechten Handlung voranschicken:

1.  Die Aussage, eine Handlung sei formal gerecht, ist eine deskriptive Aussage, da in ihr nur festgestellt wird, daß die Handlung aus der Anwendung einer bestimmten Regel folgt. Ob eine Handlung aus einer Regel folgt oder nicht ist eine Tatsache.[16] Die Aussage dagegen, eine Handlung sei gerecht, ist eine Wertung.

2.  Die Aussage, eine Handlung sei formal gerecht, kann nur dann sinnvoll geäußert werden, wenn der Sprecher eine Regel angeben kann, aus deren Anwendung die Handlung folgt.

3.  Ein und dieselbe Handlung kann als formal gerecht und formal ungerecht beurteilt werden, je nachdem auf welche Regel man sich bezieht.

4.  Der Einwand, eine Handlung h sei formal ungerecht, unterscheidet sich von dem Einwand, h sei ungerecht, durch die konversationelle Implikatur des ersteren, daß der Kritiker von h dieselbe Gerechtigkeitsregel akzeptiert wie der Handelnde (jedoch der Meinung ist, h sei mit dieser Regel nicht vereinbar). Würde er die von dem Handelnden vorausgesetzte Regel nicht akzeptieren und eine andere Regel zugrundelegen, mit der h nicht vereinbar ist, so wäre der Einwand, h sei formal ungerecht, irreführend.

5.  Da sich eine formal gerechte Handlung aus der Anwendung einer Regel ergibt,[17] kann eine Ausnahme von einer Regel (auch wenn sie universalisierbar ist und gegebenenfalls zur nachträglichen Modifikation der Regel führt) nicht formal gerecht sein: Bei einer Ausnahme wird die Regel gerade nicht angewendet. Würde man universalisierbare Ausnahmen als formal gerecht bezeichnen, so würde der Begriff der formal gerechten Handlung trivial: Da sich zu jeder Handlung eine Regel angeben läßt, aus der sie folgt, könnte jede Handlung als formal gerecht bezeichnet werden, egal ob sie aus der Anwendung einer gegebenen Regel folgt oder nicht. Damit wäre auch die mit diesem Begriff intendierte Gleichbehandlung der unter die Anwendungsbedingungen einer Regel fallenden Individuen nicht mehr gewährleistet, da die mit der Ausnahme verbundene Ungleichbehandlung dennoch formal gerecht wäre. Wenn formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit ist, ist deshalb jede Ausnahme von einer Regel ungerecht.

6.  Um formal gerecht zu sein, genügt es nicht, daß sich eine Regel finden oder aufstellen läßt, unter die sich eine Handlung (die aus keiner Regel abgeleitet wurde) subsumieren läßt. Vielmehr ist (da formale Gerechtigkeit in der Anwendung einer Regel besteht) eine Handlung nur dann formal gerecht, wenn es eine bereits gegebene Regel gibt, aus deren Anwendung sie folgt. Da die Forderung nach formaler Gerechtigkeit trivial wird, wenn jede Handlung, die aus irgendeiner persönlichen Regel eines Handelnden folgt, als formal gerecht bezeichnet wird, muß sie sich auf in irgendeiner Form bekannte und anerkannte bzw. etablierte Regeln beziehen, z.  B. auf moralische Regeln (einer bestimmten Gruppe) oder auf positive Gesetze.[18]

7.  Unter der Annahme, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei, gilt folgender Zusammenhang: Jede gerechte Handlung folgt aus der Anwendung einer Regel, aber nicht jede Anwendung einer Regel führt zu einer gerechten Handlung. Wäre jede Regelanwendung gerecht, so wäre formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit.[19] Daß sie nur eine notwendige Bedingung ist, kann deshalb nur bedeuten, daß jede gerechte Handlung aus der Anwendung einer gerechten Regel folgt,[20] und setzt voraus, daß man zwischen gerechten und ungerechten Regeln unterscheiden kann.

8.  Eine Handlung ist nicht formal gerecht genau dann, wenn sie nicht aus einer gegebenen Regel ableitbar ist; sie ist formal ungerecht bezüglich einer bestimmten Regel genau dann, wenn sie diese Regel verletzt. Jede formal ungerechte Handlung ist nicht formal gerecht.  Ist formale Gerechtigkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit, so ist eine Handlung nicht gerecht, wenn sie (a) eine gerechte Regel verletzt oder (b) aus keiner Regel folgt. Eine Handlung ist ungerecht im Fall (a). Ist formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung, so ist eine Handlung nicht gerecht, wenn sie (a‘ ) eine Regel verletzt oder (b) aus keiner Regel folgt. Sie ist ungerecht im Fall (a‘ ).

9.  Wenn jede gerechte Handlung aus der Anwendung einer Regel folgt, ist eine Handlung nicht gerecht, wenn es keine Regel gibt, aus deren Anwendung sie folgt. Formuliert man das Antezedens dieses Satzes um zu (i) „jede gerechte Handlung ist formal gerecht“, so erhält man durch Kontraposition den Satz (ii) „jede nicht formal gerechte Handlung ist nicht gerecht“. Daraus scheint zu folgen, daß eine Handlung, die eine Regel verletzt, nicht gerecht sein kann. Dies ist jedoch ein Trugschluß! Er kommt zustande, wenn die Regelrelativität der formalen Gerechtigkeit nicht beachtet wird. Eine bezüglich einer Regel R eines Regelsystems formal ungerechte Handlung kann bezüglich einer Regel R‘ eines anderen Regelsystems formal gerecht sein. Falls R eine ungerechte Regel und R‘ eine gerechte Regel ist, ist die Handlung (ceteris paribus) gerecht. (ii) darf also nicht so gedeutet werden, daß jede Handlung, die irgendeine Regel verletzt ungerecht ist, sondern nur so, daß (a) jede Handlung, die unter keine gegebene Regel subsumierbar ist, nicht gerecht ist, und (b) jede Handlung, die eine gerechte Regel verletzt, ungerecht ist. Aus der Behauptung, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei, folgt also nicht, daß jede Regelverletzung ungerecht ist. Insbesondere ist damit gezeigt, daß die Auffassung, die Verletzung der Gesetze selbst ungerechter Rechtsordnungen sei ungerecht (weil formal ungerecht bezüglich der jeweiligen Rechtsordnung), nicht damit begründet werden kann, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei. Selbst wenn formale Gerechtigkeit also eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit wäre, kann man daraus nicht schließen, daß Rechtsbruch von Seiten der rechtsanwendenden Personen prinzipiell ungerecht ist.[21]

10.Regelsysteme sind entweder geschlossen in dem Sinn, daß es für jede Handlungssituation eine einschlägige Regel gibt, um festzustellen, welche Handlung gerecht ist, oder offen in dem Sinn, daß Handlungssituationen auftreten können, die unter keine Regel des Systems subsumierbar sind, aber dennoch eine Entscheidung darüber verlangen, welche der möglichen Handlungen gerecht ist. Tritt dieser für ein offenes Regelsystem charakteristische Fall ein, so kann keine der in diesem Fall möglichen Handlungen formal gerecht (bezüglich dieses Systems) sein, da es ex hypothesi für diesen Fall keine einschlägige Regel gibt und deshalb keine Handlung aus einer Regel abgeleitet werden kann. Führt dieser Fall auch zur Aufstellung einer neuen Regel, die in Zukunft auf ähnlich gelagerte Fälle anwendbar ist, so ist doch der vorliegende Fall nicht durch Anwendung dieser neuen Regel entschieden worden. Wollte man dennoch die gewählte Handlung als formal gerecht bezeichnen, müßte man behaupten, eine Handlung sei formal gerecht, wenn sie eine Regel generiert. Damit würde aber die ursprüngliche Bedeutung der formalen Gerechtigkeit, die Regelanwendung, in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit wäre, könnten also in offenen Regelsystemen Situationen eintreten, in denen es keine Möglichkeit gäbe, gerecht zu handeln.

11.Unabhängig von der Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Regelsystemen kann es vorkommen, daß manche (der als gerecht betrachteten) Regeln eines Systems aufgrund ihrer Allgemeinheit oder Ungenauigkeit in der Formulierung auf Fälle anzuwenden sind, für die sie nicht intendiert waren, oder daß sie bestimmte moralisch bzw. rechtlich relevante Umstände einzelner Fälle nicht angemessen berücksichtigen, und ihre Anwendung in diesen Fällen deshalb ungerecht ist.[22] Enthält ein Regelsystem solche Regeln, so ist in diesem System die formale Gerechtigkeit einer Handlung (bezüglich der Regeln des Systems) weder notwendig noch hinreichend für die Gerechtigkeit der Handlung: Wenn der eben erwähnte Fall eintritt, bedeutet dies (a), daß eine formal gerechte Handlung ungerecht ist und (b), daß es eine gerechte Handlung gibt, die nicht auf eine Regel des Systems zurückführbar ist, d.  h. daß es eine gerechte Handlung gibt, die nicht formal gerecht (bezüglich des Systems) ist. Da bei (a) die formal gerechte Handlung keine hinreichende Bedingung und bei (b) keine notwendige Bedingung der gerechten Handlung ist und die beiden Fälle sich gegenseitig implizieren, folgt, daß in einem solchen Regelsystem eine formal gerechte Handlung weder notwendig noch hinreichend für die Gerechtigkeit einer Handlung ist. Ich nenne solche Regelsysteme unterdeterminiert, da die Regeln nicht vollständig determinieren, welche Handlungen gerecht sind.

Aus den soeben angestellten Überlegungen folgt, daß die Behauptung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit entweder inkonsistent, unplausibel oder trivial, d.  h. ohne jede Relevanz, ist.

Wird die Behauptung, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei, auf Rechtsordnungen angewandt, so ist eine erste Möglichkeit die Auffassung, daß eine rechtliche Handlung, d.  h. eine offizielle Handlung der rechtsanwendenden Organe, nur dann gerecht sein könne, wenn sie aus der Anwendung einer Regel der jeweiligen Rechtsordnung folgt, egal ob die Rechtsordnung selbst gerecht oder ungerecht ist. Aus den Punkten 7 bis 9 folgt jedoch, daß diese Auffassung nicht richtig sein kann, da sonst formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung wäre.[23] Man kann dies auch durch folgendes Argument einsehen: Angenommen, eine rechtliche Handlung könne nur dann gerecht sein, wenn sie aus der Anwendung einer Regel der jeweiligen Rechtsordnung folgt, d.  h. (i) jede gerechte rechtliche Handlung sei formal gerecht bezüglich der jeweiligen Rechtsordnung. Dann folgt, daß (ii) jede bezüglich dieser Rechtsordnung formal ungerechte Handlung ungerecht ist. Wenn formale Gerechtigkeit nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit ist, so ist auch der Fall möglich, daß (iii) eine bezüglich dieser Rechtsordnung formal gerechte Handlung ungerecht ist. Dieser Fall ist jedoch mit (i) und (ii) nicht vereinbar. Für die Behauptung, eine formal gerechte Handlung sei ungerecht, müßte eine überpositive, moralische Regel herangezogen werden. Diese müßte aber konsistenterweise auch für die Beurteilung der Handlungen in den Fällen (i) und (ii) herangezogen werden, so daß auch eine formal ungerechte Handlung gerecht sein könnte. Soll an (i) und (ii) festgehalten werden, muß (iii) aufgegeben werden, was bedeutet, daß jede bezüglich dieser Rechtsordnung formal gerechte Handlung gerecht ist. Dies hat jedoch zur Konsequenz, daß formale Gerechtigkeit auch zur hinreichenden Bedingung der Gerechtigkeit wird.[24] Wer also (i) und (ii) vertreten will, ist zu der Behauptung gezwungen, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei. Dies ist erstens unplausibel, zweitens nicht das gemeinsame Element aller Gerechtigkeitskonzeptionen und widerspricht drittens der Ausgangsbehauptung, daß formale Gerechtigkeit nur eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei.

Formale Gerechtigkeit als notwendige Bedingung kann sich deshalb allenfalls auf gerechte Rechtsordnungen beziehen, so daß eine rechtliche Handlung nur dann gerecht sein kann, wenn sie aus der Anwendung einer Regel einer gerechten Rechtsordnung folgt. Gegen diese Auffassung lassen sich folgende Einwände geltend machen: Rechtsordnungen sind typischerweise offene und unterdeterminierte Regelsysteme und müssen deshalb in bestimmten Fällen auf richterliche Rechtsfortbildung zurückgreifen. Diese wäre jedoch, da nicht formal gerecht, prinzipiell nicht gerecht bzw. ungerecht, wenn formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung wäre. Ebenfalls ungerecht wären Billigkeitsentscheidungen, da auch diese nicht formal gerecht sind.[25] Diese Konsequenzen sind unplausibel und sprechen somit gegen die diskutierte Behauptung.[26] Diese Unplausibilität ist allerdings nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr, daß die Ausgangsbehauptung, eine rechtliche Handlung könne nur dann gerecht sein, wenn sie aus der Anwendung einer Regel einer gerechten Rechtsordnung folge, inkonsistent ist! Da formale Gerechtigkeit nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sein soll, muß zwischen gerechten und ungerechten Rechtsordnungen unterschieden, und formale Gerechtigkeit als notwendige Bedingung nur auf gerechte Rechtsordnungen bezogen werden. Das heißt, daß die Verletzung der Regeln einer ungerechten Rechtsordnung gerecht sein kann. Wenn aber die Verletzung der Regeln einer ungerechten Rechtsordnung aufgrund moralischer Erwägungen gerecht sein kann, so muß aufgrund der gleichen Erwägungen auch die Verletzung der Regeln einer gerechten Rechtsordnung in den Fällen, in denen ihre Anwendung ungerecht wäre, gerecht sein können, so daß Billigkeitsentscheidungen und richterliche Rechtsfortbildung nicht prinzipiell ungerecht (bzw. nicht gerecht) sind. Dann allerdings ist die Behauptung falsch, daß eine rechtliche Handlung nur dann gerecht sein könne, wenn sie aus der Anwendung einer Regel einer gerechten Rechtsordnung folge, und formale Gerechtigkeit ist keine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit.

Insgesamt ergibt sich aus den bisherigen Überlegungen folgendes Ergebnis: Bezogen auf Rechtsordnungen kann formale Gerechtigkeit keine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sein. Sie ist entweder notwendig und hinreichend, was unplausibel ist und von den meisten, die diesen Begriff verwenden, abgelehnt wird, oder sie ist weder notwendig noch hinreichend, womit der Begriff bedeutungslos wird. Jedenfalls ist die Ausgangsbehauptung, daß formale Gerechtigkeit nur eine notwendige Bedingung sei, falsch bzw. inkonsistent.

In einem letzten Rettungsversuch könnte man noch die These vertreten, daß eine Handlung nur dann gerecht sein könne, wenn sie aus einer moralischen Regel folge. In dieser Interpretation wird der Begriff der formal gerechten Handlung jedoch unplausibel oder vollkommen trivial. Folgende Gründe sprechen gegen diese These:[27] (a) Moralische Regeln sind nicht klar und eindeutig gegeben, da sie in der Regel nicht kodifiziert sind. Es macht daher wenig Sinn, den Begriff der formalen Gerechtigkeit auf sie anzuwenden. Die Frage, ob eine Handlung formal gerecht ist, ist meist nicht entscheidbar, weil gar nicht klar ist, wie die vorausgesetzte moralische Regel lautet. Lautet sie z.  B. „man soll nicht töten“ oder „man soll nicht töten, außer in Notwehr“? (b) Moralische Regeln sind meist sehr allgemein gehalten, z.  B. „Versprechen soll man halten“, damit sie auf möglichst viele Situationen anwendbar sind. Aus diesem Grund sind Moralsysteme unterdeterminiert, so daß in vielen Fällen Ausnahmen von Regeln gerecht sind (und die Regeln entsprechend modifiziert werden können. Dieser Prozeß ist jedoch nicht abschließbar.) Diesem Einwand können sich nur strikte Deontologen (um den Preis der Unplausibilität) entziehen,[28] oder man behauptet, daß sich formale Gerechtigkeit nicht auf solche, immer noch relativ speziellen Regeln beziehe, sondern auf die obersten, abstraktesten moralischen Regeln, z.  B. auf die Regel des Handlungsutilitarismus. Dann ist formale Gerechtigkeit aber für ethische Argumentationen und Entscheidungen irrelevant und hat außerdem mit dem Begriff, wie er ursprünglich eingeführt worden ist, nicht mehr viel gemein, da aus solchen abstrakten Regeln keine Handlungen syllogistisch abgeleitet werden können.[29]

Aufgrund der Eigenschaften der formal gerechten Handlung ergibt sich somit folgendes Resultat: Die Behauptung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit, ist, angewandt auf Rechtsordnungen, inkonsistent, angewandt auf Moralsysteme, unplausibel oder trivial.

Unabhängig von diesem Resulat ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß, selbst wenn formale Gerechtigkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit wäre (und a fortiori wenn sie weder notwendig noch hinreichend ist), aus der formalen Gerechtigkeit einer Handlung nichts über deren Gerechtigkeit folgt, da eine formal gerechte Handlung nur gerecht ist, wenn sie aus einer gerechten Regel folgt, aber ungerecht, wenn sie (nur) aus einer ungerechten Regel folgt. Aus diesem Grund kann formale Gerechtigkeit auch nicht als Minimalbedingung der Gerechtigkeit interpretiert werden, so daß von einer ungerechten Handlung gesagt werden könnte, sie sei wenigstens formal gerecht und damit gemeint ist, dies sei immerhin besser, als wenn sie auch noch formal ungerecht wäre. Ob von zwei ungerechten Handlungen die formal gerechte oder die nicht formal gerechte besser ist, hängt von den jeweiligen Umständen ab, d.  h. davon, welche Handlung für die Betroffenen besser ist.

Angesichts dieses Ergebnisses ist Perelmans Behauptung, das Gerechtigkeitsproblem teilweise geklärt zu haben, nicht gerechtfertigt:

Das Gerechtigkeitsproblem ist so teilweise geklärt. Die durch die konkrete Gerechtigkeit hervorgerufenen Schwierigkeiten treten eben dann nicht auf, wenn man sich ausschließlich mit der formalen Gerechtigkeit beschäftigt. (Perelman 1945, 43)

Da formale Gerechtigkeit keine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit ist und aus der formalen Gerechtigkeit einer Handlung nichts hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit folgt, kann man sich nicht ausschließlich mit ihr beschäftigen. Dies wäre nur möglich, wenn sie eine hinreichende Bedingung wäre. Dann allerdings wäre das Gerechtigkeitsproblem nicht nur teilweise, sondern vollständig geklärt.

Unabhängig von der Stringenz der Argumente gegen die Behauptung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit, ist jedoch zu betonen, daß es bisher keine Argumente für diese Behauptung gibt. Aus Perelmans Beobachtung, daß den sechs „Formeln der konkreten Gerechtigkeit“, von denen seine Untersuchung ausging, gemeinsam ist, daß sie Regeln sind, folgt in keiner Weise, daß Gerechtigkeit in der ausnahmslosen Anwendung von Regeln besteht. Perelman zeigt weder, daß es im Begriff der Gerechtigkeit liege, d.  h. daß aus einer Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs folge, daß Ausnahmen von Regeln per se ungerecht seien, noch, daß Regeln überhaupt notwendig seien, um gerecht handeln zu können. Ob Ausnahmen von Regeln gerecht sind oder nicht, ist eine Frage der materialen Gerechtigkeit und ihre negative Beantwortung jedenfalls nicht das gemeinsame Element, das allen Gerechtigkeitskonzeptionen zugrunde liegt, und auf das sich alle einigen können, wie es Perelman von der formalen Gerechtigkeit behauptet.

Meiner Ansicht nach zeigt eine Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs, daß formale Gerechtigkeit keine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit ist.[30] Gerechtigkeit hängt eng zusammen mit Gleichbehandlung, besteht jedoch nicht in der faktischen Gleichbehandlung aller Individuen, sondern in der gleichen Berücksichtigung ihrer Interessen.[31] Die gleiche Interessenberücksichtigung wird oft eine ungleiche Behandlung erfordern, da es z.  B. ungerecht wäre, Kinder in jeder Hinsicht genauso zu behandeln wie Erwachsene. Nicht jede faktische Ungleichbehandlung ist also ungerecht. Eine Ungleichbehandlung ist gerecht, wenn bestimmte moralisch relevante Eigenschaften oder Umstände vorliegen, so daß die gleiche Interessenberücksichtigung nur durch die Ungleichbehandlung gewährleistet werden kann. Entsprechend ist eine Ungleichbehandlung ungerecht, wenn sie mit dem Vorliegen moralisch irrelevanter Eigenschaften begründet wird. Dieses formale Kriterium ist sowohl auf Handlungen als auch auf Regeln anwendbar. Wenn eine Regel in einem bestimmten Fall verletzt wird, so hat dies zwar eine faktische Ungleichbehandlung zur Folge (da in diesem Fall jemand, der unter die Anwendungsbedingungen der Regel fällt, nicht nach ihr behandelt wird), aber nicht unbedingt eine Ungleichbehandlung ohne moralisch relevante Gründe. Das heißt, obwohl aus der Verletzung einer Regel eine Ungleichbehandlung folgt, folgt aus ihr nicht eine Ungleichbehandlung ohne moralisch relevante Gründe. Nur die letztere ist jedoch ungerecht. Es gibt somit keinen Grund anzunehmen, daß eine Regelverletzung per se ungerecht sei und folglich keinen Grund anzunehmen, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei.

3 Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit

Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit (PFG) fordert, gemäß einer Regel zu handeln, welche die Verpflichtung formuliert, alle Wesen einer bestimmten Kategorie auf eine bestimmte Weise zu behandeln,[32] oder kurz: gemäß einer Regel der materialen Gerechtigkeit zu handeln. In dieser Formulierung ist das Prinzip der formalen Gerechtigkeit jedoch nicht eindeutig, sondern läßt drei Lesarten zu (wobei die erste Lesart diese unbestimmte Formulierung des PFG ist):

(PFG1) Man soll gemäß einer Regel der materialen Gerechtigkeit handeln.

(PFG2) Man soll gemäß einer gerechten Regel der materialen Gerechtigkeit handeln.

(PFG3) Man soll gemäß irgendeiner Regel der materialen Gerechtigkeit handeln. [33]

Da PFG2 nur anwendbar ist, wenn man schon weiß, welche Regel gerecht ist, eine gerechte Regel aber in sich schon die Forderung ihrer Anwendung enthält,[34] kann PFG2 nur als Metaregel verstanden werden, die fordert, gerechte Regeln immer, d.  h. ohne Ausnahme anzuwenden. So interpretiert beruht PFG2 auf der Behauptung, eine formal gerechte Handlung sei eine notwendige Bedingung einer gerechten Handlung. Mit der Ablehnung dieser Behauptung muß auch PFG2 abgelehnt werden.

PFG2 kann auch nicht im Sinne Perelmans sein, da es voraussetzt, (i) daß es gerechte Regeln gibt und (ii), daß man sich für bestimmte Regeln entscheidet. Beide Voraussetzungen lehnt Perelman jedoch ab. Gerechtigkeitsregeln sind nach ihm nicht rational begründbar, sondern beruhen letzten Endes auf willkürlichen Werten,[35] und die Entscheidung für eine Regel weist er explizit zurück.[36]

Nun bleibt noch PFG3 als mögliche Interpretation des Prinzips der formalen Gerechtigkeit. Wenn man der Auffassung ist, daß eine formal gerechte Handlung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer gerechten Handlung sei, so ist die Forderung, gemäß irgendeiner Regel zu handeln, nur die Forderung nach einer notwendigen Bedingung gerechten Handelns. Wer diese Forderung erfüllt, handelt zwar formal gerecht, aber nicht unbedingt gerecht (da die Regel selbst ungerecht sein könnte). Da aus der formalen Gerechtigkeit einer Handlung nichts über deren Gerechtigkeit folgt, d.  h. eine formal gerechte Handlung auch höchst ungerecht sein kann, und, allgemein gesprochen, nichts damit gewonnen ist, nur die notwendige Bedingung von etwas zu fordern, kann PFG3 keine eigenständige Forderung sein, sondern muß ersetzt werden durch PFG2 oder durch die Forderung, gemäß einer ganz bestimmten (begründeten) Gerechtigkeitsregel zu handeln. Während auf die erste Möglichkeit die oben vorgebrachten Einwände zutreffen, hat die zweite Möglichkeit nichts mehr mit formaler Gerechtigkeit zu tun, da sie ja fordert, eine ganz bestimmte Regel der materialen Gerechtigkeit anzuwenden. Unter der Annahme, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei, gibt es also keine Interpretation, in der es sinnvoll ist PFG3 zu fordern.

PFG3 könnte noch unter der Annahme interpretiert werden, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei. Unter dieser Annahme genügt es, um gerecht zu handeln, irgendeine Regel anzuwenden. Es gibt demzufolge keine Gerechtigkeit, die über die Regelanwendung hinausgeht. Dies ist die Auffassung von Alf Ross:

The words “just” and “unjust” [...] make sense when applied to characterise the decision that is made by a judge – or any other person dealing with the application of a given set of rules. To say that the decision is just means that it has been made in regular fashion, that is, in conformity with the rule or system of rules in force [...]. [...]
But applied to characterise a general rule or order the words “just” and “unjust” are entirely devoid of meaning. Justice is no guide for the legislator. For it is indeed impossible [...] to derive from the formal idea of equality any sort of demand with regard to the content of the rule or the order. Applied in this connection, the words have no descriptive meaning at all. [...] A says: I am against this rule, because it is unjust. What he should say is: This rule is unjust because I oppose it.
To invoke justice is the same thing as banging on the table: an emotional expression which turns one‘ s demand into an absolute postulate. (Ross 1958, 274)
As we have seen, the idea of justice resolves itself into the demand that a decision should be the result of the application of a general rule. Justice is the correct application of a law, as opposed to arbitrariness. (Ross 1958, 280)

Es ist hier nicht der Ort, diese extreme Auffassung einer Kritik zu unterziehen.[37] Wichtig ist nur, daß hier das, was von Perelman (und anderen) als gemeinsames Element aller Gerechtigkeitsauffassungen, als das, worauf sich alle einigen können, gedacht war, selbst zu einer eigenständigen Gerechtigkeitsauffassung wird (auf die sich sicherlich nicht alle einigen können). Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit wird hier also zu einem Prinzip der materialen Gerechtigkeit.

Während Ross deutlich ausspricht, daß es neben der formalen Gerechtigkeit keine Kriterien der materialen Gerechtigkeit gebe, daß es deshalb sinnlos sei, von gerechten oder ungerechten Regeln zu sprechen und kurzerhand die formale zur materialen Gerechtigkeit erhebt, verwandelt Perelman die formale Gerechtigkeit stillschweigend in die materiale, indem er schlicht das Attribut „formal“ wegläßt und unvermittelt von Gerechtigkeit statt von formaler Gerechtigkeit spricht.[38] Einige Illustrationsbeispiele:

Man sieht also, wie die formale Gerechtigkeit mit den verschiedensten Philosophien und Gesetzgebungen vereinbar ist, wie man gerecht sein kann, indem man allen Menschen dieselben Rechte zugesteht und ebenso gerecht, indem man verschiedene Rechte verschiedenen Kategorien von Menschen zugesteht, gerecht nach römischem Recht und gerecht nach germanischem Recht, und so weiter. (43f.)
Die formale Gerechtigkeit sagt, daß ein Akt gerecht ist, wenn er sich aus der Anwendung einer bestimmten Regel ergibt. (64)
Dieser gemeinsame Faktor, den wir formale Gerechtigkeit nennen, ermöglicht uns zu sagen, wann eine Handlung als gerecht betrachtet wird. Die Gerechtigkeit einer Handlung besteht in der Gleichheit der Behandlung, die sie für alle Mitglieder einer und derselben Wesenskategorie vorsieht. (83)

Indem Perelman die beiden Begriffe „Gerechtigkeit“ und „formale Gerechtigkeit“ nicht sorgfältig auseinanderhält und oft von Gerechtigkeit spricht, wenn er von formaler Gerechtigkeit sprechen müßte, wird seine Definition der formalen Gerechtigkeit unter der Hand zu einer persuasiven Definition der Gerechtigkeit.[39]

4 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendung

Perelman gewinnt seinen Begriff der formalen Gerechtigkeit aus einer Analyse unterschiedlicher Gerechtigkeitskonzeptionen, die auf das gesamte (moralisch relevante) menschliche Handeln anwendbar sind. Meist wird formale Gerechtigkeit jedoch nur im Zusammenhang mit positiven Gesetzen und deren Anwendung erörtert, so daß nur die Beziehung der formalen Gerechtigkeit zu den offiziellen Handlungen und Urteilen der mit der Rechtsanwendung beauftragten Personen untersucht wird.

4.1 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit

Rechtsanwendungsgleichheit ist gegeben, wenn „jede Rechtsnorm auf jeden Fall, der unter ihren Tatbestand fällt, und auf keinen Fall, der nicht unter ihren Tatbestand fällt, angewendet wird“.[40] Um festzustellen, in welcher Beziehung formale Gerechtigkeit zur Rechtsanwendungsgleichheit steht, ist es nötig zwischen Gesetzen mit und ohne Entscheidungsspielraum für die rechtsanwendenden Organe zu differenzieren.

4.1.1 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit bei Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum

Unter Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum verstehe ich solche, die an einen Tatbestand eine einzige, eindeutig festgelegte Rechtsfolge knüpfen, z.  B. § 211 StGB: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“. Solche Gesetze können nur entweder angewendet oder verletzt bzw. nicht angewendet werden. Von einer parteiischen oder unparteiischen Anwendung zu sprechen ist dagegen sinnlos.[41] Eine Politesse zum Beispiel, die nur auswärtige Falschparker aufschreibt, wendet die Regel, alle Falschparker aufzuschreiben, auf auswärtige Falschparker an, auf ortsansässige dagegen nicht. Von einer parteiischen Anwendung kann hier nicht gesprochen werden. Rechtsanwendung und Rechtsanwendungsgleichheit können deshalb bei Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum nie auseinanderfallen: Rechtsanwendungsungleichheit besteht immer in der Nichtanwendung einschlägiger Gesetze. Da das Gebot, geltende Gesetze auch anzuwenden, in den Gesetzen selbst enthalten ist, und mit der Rechtsanwendung auch die Rechtsanwendungsgleichheit gegeben ist, kann es kein eigenständiges Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit geben.[42]

Der Zusammenhang zwischen Rechtsanwendungsgleichheit und formaler Gerechtigkeit ist nun offensichtlich. Im Anschluß an Perelman wurde formale Gerechtigkeit bisher mit Regelanwendung gleichgesetzt. Damit einher geht, daß formale Ungerechtigkeit immer in einer Regelverletzung besteht, wobei Regelverletzung (sofern sie absichtlich geschieht und nicht auf einem Irrtum beruht) gleichbedeutend damit ist, daß die Regel auf einen Fall, für den sie einschlägig ist, nicht angewendet wird. Daraus folgt, daß jede Anwendung einschlägiger Gesetze formal gerecht und jede Nichtanwendung der Gesetze formal ungerecht ist. Formale Gerechtigkeit fällt also mit Rechtsanwendung und Rechtsanwendungsgleichheit zusammen. Wie es kein eigenständiges Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit geben kann, kann es auch kein eigenständiges Gebot der formalen Gerechtigkeit in der Rechtsanwendung geben. Das letztere ist überdies gar nicht sinnvoll formulierbar, da es per definitionem nicht möglich ist, Gesetze ohne Entscheidungsspielraum formal ungerecht anzuwenden. Eine formal ungerechte „Anwendung“ ist keine Anwendung, sondern eine Verletzung des Gesetzes.

4.1.2 Formale Gerechtigkeit und Rechtsanwendungsgleichheit bei Gesetzen mit Entscheidungsspielraum

In Rechtsordnungen gibt es in der Regel zahlreiche Gesetze, bei deren Anwendung dem Rechtsanwender ein Entscheidungsspielraum verbleibt, z.  B. § 265 StGB, der für Versicherungsbetrug eine „Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren“ vorschreibt. Was den Zusammenhang zwischen solchen Gesetzen und formaler Gerechtigkeit betrifft, gibt es zwei Möglichkeiten, je nachdem ob man die parteiische Anwendung solcher Gesetze noch als korrekte Anwendung oder schon als Verletzung der Gesetze interpretiert:

1.  Interpretiert man die parteiische „Anwendung“ von Gesetzen als Verletzung der Gesetze, so unterscheiden sich Gesetze mit und ohne Entscheidungsspielraum nicht hinsichtlich ihrer korrekten Anwendung. Die Begriffe „formale Gerechtigkeit“, „Rechtsanwendung“ und „Rechtsanwendungsgleichheit“; sind damit extensional gleich: wer formal gerecht handelt, wendet die Gesetze (korrekt) an und gewährleistet Rechtsanwendungsgleichheit, und umgekehrt. Ein eigenes Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit oder formalen Gerechtigkeit erweist sich, ebenso wie bei Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum, als überflüssig bzw. nicht sinnvoll formulierbar.

2.  In der zweiten Interpretation unterscheiden sich Gesetze mit Entscheidungsspielraum von solchen ohne dadurch, daß sie nicht einfach angewendet oder nicht angewendet, sondern zudem parteiisch oder unparteiisch angewendet werden können. Die parteiische Anwendung eines solchen Gesetzes ist immer noch eine Anwendung des Gesetzes und keine Verletzung desselben. Wenn z.  B. ein Richter in den USA Schwarze grundsätzlich höher bestraft als Weiße, aber innerhalb des vom Gesetz festgelegten Strafrahmens bleibt, verletzt er nicht das betreffende Gesetz, sondern wendet es parteiisch an.[43]

Mit Perelmans definitorischer Gleichsetzung von formaler Gerechtigkeit und Regelanwendung ist die parteiische Anwendung von Gesetzen mit Entscheidungsspielraum immer noch formal gerecht. Sie involviert jedoch eine Ungleichbehandlung der Individuen, die unter die Anwendungsbedingungen der Gesetze fallen. Gerade dies sollte mit dem Begriff der formalen Gerechtigkeit, der ja die allen Gerechtigkeitskonzeptionen gemeinsame Idee der Gleichbehandlung aller unter eine Regel fallenden Individuen erfassen sollte, ausgeschlossen werden. Da nach Perelman die Gleichbehandlung eine logische Folge der Regelanwendung ist, die unparteiische Regelanwendung aber über die bloße Logik der Regelanwendung hinausgeht, ist es nicht verwunderlich, daß formale Gerechtigkeit hier nicht greift. Dies offenbart die Nutzlosigkeit dieses Begriffs: Wo tatsächlich aus der Regelanwendung die Gleichbehandlung folgt, braucht man keinen zusätzlichen Begriff der formalen Gerechtigkeit, wo Regelanwendung allein die Gleichbehandlung nicht garantiert, wo also noch etwas Zusätzliches notwendig wäre, kann formale Gerechtigkeit dazu nichts beitragen.

Der Begriff der formalen Gerechtigkeit ist also in der Rechtsanwendung sowohl bei Gesetzen ohne Entscheidungsspielraum als auch in beiden Interpretationen von Gesetzen mit Entscheidungsspielraum überflüssig.

4.2 Formale Gerechtigkeit und Billigkeit

Das Problem der Billigkeit oder der Einzelfallgerechtigkeit resultiert aus der Tatsache, daß einzelne Rechtsfälle auftreten können, die durch die statuierte allgemeine Regel nicht angemessen, d.  h. nicht gerecht, gelöst werden. (Weinberger 1988, 231)

Das Problem der Billigkeit entsteht also dadurch, daß eine (bezüglich einer Rechtsordnung) formal gerechte, d.  h. aus der Anwendung eines Gesetzes folgende Handlung ungerecht sein kann.[44] Um diese Ungerechtigkeit zu vermeiden, wird in der Billigkeitsentscheidung das einschlägige Gesetz nicht angewendet. Eine Billigkeitsentscheidung ist deshalb immer formal ungerecht.

Aufgrund des folgenden Arguments hält Weinberger Billigkeitsentscheidungen mit der formalen Gerechtigkeit für vereinbar:

Geht man von der gesetzlichen Rechtsregel aus, daß unter den Bedingungen A die Rechtsfolgen B eintreten sollen, tritt durch die Anerkennung eines neuen relevanten Umstandes A1 eine Spaltung der gesetzlichen Norm in zwei Fälle ein:
1.  Es werden die Rechtsfolgen B1 für die Bedingungen (A und A1) festgesetzt, und
2.  es werden die Rechtsfolgen B2 für die Bedingungen (A und nicht-A1) bestimmt.
Die Strukturanalyse zeigt, daß die Billigkeitsentscheidung – d.  h. die Heranziehung neuer differenzierender Merkmale – jedenfalls typenbildend und generalisierbar ist, also nicht dem Prinzip der formalen Gleichheit widerspricht. (Weinberger 1988, 232)

Dieses Argument zeigt jedoch nur, daß Billigkeitsentscheidungen universalisierbar sind und gegebenenfalls zur nachträglichen Modifizierung eines Gesetzes führen können. Das bestehende Gesetz jedoch wird bei der Billigkeitsentscheidung gerade nicht angewandt.[45]

4.3 Formale Gerechtigkeit und Rechtsbruch[46]

Aus der Annahme, daß formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei, wird manchmal die Auffassung abgeleitet, daß Rechtsbruch von Seiten der rechtsanwendenden Organe prinzipiell, d.  h. auch bei ungerechten Gesetzen bzw. Rechtsordnungen, ungerecht sei.[47] Dies ist jedoch ein non sequitur und beruht auf dem auf S. 8, Punkt 9 dargestellten Trugschluß. Nur extreme Rechtspositivisten wie z.  B. Ross, die der Ansicht sind, daß Gesetze selbst nicht hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit beurteilt werden können, daß also formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei, müssen diese Position einnehmen. Jedoch gilt auch umgekehrt, daß aus der Auffassung, Rechtsbruch sei prinzipiell ungerecht, dieser extreme Rechtspositivismus folgt. Wer behauptet, Rechtsbruch sei ungerecht, weil formale Gerechtigkeit eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit sei, ist zu der Behauptung gezwungen, daß formale Gerechtigkeit auch eine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit sei.[48]

5 Formale Gerechtigkeit und Rechtsetzungsgleichheit

Das Gebot der Rechtsetzungsgleichheit fordert vom Gesetzgeber, alle gleich zu behandeln, d.  h. gerechte Gesetze zu erlassen. Da formale Gerechtigkeit in der Anwendung von Regeln besteht, dem Inhalt der Regeln aber keinerlei Beschränkungen auferlegt, ist klar, daß aus der formalen Gerechtigkeit weder das Gebot noch Kriterien der Rechtsetzungsgleichheit abgeleitet werden können.[49] Daher besteht zwischen beiden nur ein sehr indirekter Zusammenhang. Wer, wie z.  B. Ross, formale Gerechtigkeit für eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit hält, kann mit dem Gebot der Rechtsetzungsgleichheit keinen Sinn verbinden:

Some constitutions state unspecifically that all citizens are equal in the eyes of law. Such provisions appear to be devoid of any specific meaning. It seems that they can only mean one of two things:
(1) that the law according to its content shall be upheld without respect of persons – which goes without saying and lies already in the concept of a law;
(2) that the law must not base its rule on distinctions or characteristics which are considered to be “immaterial” or “unjust”. But such a prohibition against “unjust” laws has no precise meaning at all, since “injustice” in this context is an emotionally biased expression not to be defined by objective criteria. (Ross 1958, 286)

Wer formale Gerechtigkeit hingegen für keine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit hält, wird zwar vom Gesetzgeber Rechtsetzungsgleichheit fordern, kann aber der formalen Gerechtigkeit keinerlei Kriterien für gerechte Gesetze entnehmen.

6 Formale Gerechtigkeit und Unparteilichkeit

Formale Gerechtigkeit wird gelegentlich mit Unparteilichkeit oder unparteiischer Regelanwendung identifiziert. So definiert Rawls (1971, d266/e235) die formale Gerechtigkeit als die „ordnungsgemäße und unparteiische und in diesem Sinne faire Anwendung des Gesetzes“. Nach Höffe besteht formale Gerechtigkeit

in der Forderung, jeden nach demselben Gesichtspunkt zu behandeln. Diese Forderung betrifft also die Anwendung einer Regel und läßt sich unschwer unter das Prinzip der Unparteilichkeit subsumieren. Denn unabhängig von der Frage, ob es auf die Leistungen, die gesetzlichen Rechte, die Verdienste oder die Bedürfnisse ankommt: dort, wo die Güter und Lasten jedem nach derselben Regel zugteilt werden, wird ohne Ansehen der Person, mithin unparteiisch gehandelt. (Höffe 1987, 45)

Wie jedoch die Diskussion von Gesetzen mit Entscheidungsspielraum zeigte, können Regeln auch parteiisch angewendet werden, so daß Regelanwendung nicht automatisch Unparteilichkeit nach sich zieht. Umgekehrt ist unparteiisches Handeln nicht notwendigerweise mit der Anwendung von Regeln verbunden. Unparteilichkeit und Regelanwendung sind also voneinander unabhängig.[50] Der Begriff der formalen Gerechtigkeit, der die unparteiische Regelanwendung enthält, geht also über Perelmans Definition der formalen Gerechtigkeit hinaus. Es ist dieses zusätzliche Element, das die Gleichbehandlung auch bei Gesetzen mit Entscheidungsspielraum gewährleisten könnte und damit das Defizit in Perelmans Begriff beheben könnte.[51] Mit diesem Schritt von der Regelanwendung zur unparteiischen Regelanwendung ist die formale Gerechtigkeit jedoch bereits verlassen:

Ein von allen Autoren betontes Kennzeichen der formalen Gerechtigkeit ist ihre Wertneutralität, womit gemeint ist, daß aus ihr keinerlei Vorgaben für den Inhalt von Gesetzen ableitbar sind und die gerechte Anwendung von Gesetzen (d.  h. die Rechtsanwendungsgleichheit) unabhängig von der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit der Gesetze (d.  h. der Rechtsetzungsgleichheit) möglich ist. Bei dem modifizierten Begriff der formalen Gerechtigkeit, der die unparteiische Regelanwendung fordert, ist diese Trennung zwischen Rechtsanwendungsgleichheit und Rechtsetzungsgleichheit nicht mehr aufrecht zu erhalten: Die Kriterien für die unparteiische Anwendung der Gesetze unterscheiden sich nicht prinzipiell von den Kriterien für unparteiische Gesetze. Wer die unparteiische Anwendung von Gesetzen fordert, muß deshalb konsistenterweise auch fordern, daß die Gesetze selbst unparteiisch sind. Unparteiische Gesetze sind aber eine Forderung der materialen, nicht der formalen Gerechtigkeit.

7 Gleiche Fälle gleich behandeln

Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit wird oft mit der Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, identifiziert, so z.  B. bei R. M. Hare,[52] Peter Koller[53] und Ota Weinberger. Koller und Weinberger sind der Auffassung, daß die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln, äquivalent sei zu der Forderung, nach allgemeinen Regeln zu handeln, d.  h. äquivalent zu Perelmans Prinzip der formalen Gerechtigkeit. So schreibt Weinberger:

Das Prinzip der formalen Gleichheit[54] können wir in folgender Weise formulieren:
Unter gleichen als relevant anerkannten Bedingungen     (4)
sollen gleiche Rechtsfolgen gesetzt werden.
Wie sich leicht zeigen läßt, ist das Prinzip dem Postulat gleichwertig, daß juristisch nach generellen Sollensregeln geurteilt werden soll.
Lautet nämlich die generelle normative Regel:
Für jedes x gilt: wenn die Bedingungen A erfüllt sind,     (5)
dann soll x ein Verhalten B an den Tag legen,
dann liefern die zwei Untersätze
Die Person P1 erfüllt die Bedingungen A,     (6)

Die Person P2 erfüllt die Bedingungen A,     (6‘)
die analogen Konklusionen,
P1 soll ein Verhalten B an den Tag legen,     (7)
P2 soll ein Verhalten B an den Tag legen,     (7‘)
welche genau dem Grundsatz der formalen Gleichheit entsprechen. Umgekehrt kann nach Maßgabe des formalen Gleichheitspostulats die generelle Regel (5) aufgestellt werden, sobald die rechtssetzende Entscheidung getroffen ist, welche Momente als die relevanten Bedingungen gelten und welche Rechtsfolgen sie zeitigen. (Weinberger 1974a, 27)[55]

Wenn Weinberger recht hätte und die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln äquivalent wäre zu der Forderung, nach generellen Sollensregeln zu handeln, würden die oben vorgebrachten Einwände gegen das Prinzip der formalen Gerechtigkeit auch auf die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln zutreffen. Sein Argument beweist jedoch nicht die Äquivalenz beider Prinzipien. In der einen Richtung der behaupteten Äquivalenz zeigt Weinberger nur für Gesetze ohne Entscheidungsspielraum, daß aus der Regelanwendung die Gleichbehandlung gleicher Fälle folgt. Für Gesetze mit Entscheidungsspielraum gilt dies gerade nicht. In der anderen Richtung behauptet er nur, daß die generelle Regel aufgestellt werden kann. Daß es möglich ist, eine Regel aufzustellen, unter die zwei gleiche Fälle, die man gleich behandelt hat, subsumierbar sind, zeigt jedoch nicht, daß man diese Regel bei der Entscheidung dieser Fälle bereits angewandt hat, sondern im Gegenteil, daß man die Regel erst aus der Entscheidung der Fälle gewinnt.[56] Das Prinzip, gleiche Fälle gleich zu behandeln ist also nicht mit Perelmans Prinzip der formalen Gerechtigkeit äquivalent. Daher wird das erstere auch nicht von den Einwänden gegen das letztere getroffen. Und in der Tat ist die Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln eine sinnvolle und notwendige Forderung. Sie ist äquivalent zu der Forderung nach Universalisierbarkeit.

8 Formale Gerechtigkeit und Universalisierbarkeit

Wie aus dem zuletzt Gesagten bereits hervorgeht, hängt der Zusammenhang zwischen formaler Gerechtigkeit und Universalisierbarkeit davon ab, was man unter formaler Gerechtigkeit versteht. Diejenigen Autoren, die einen engen Zusammenhang bzw. eine Äquivalenz zwischen Universalisierbarkeit und formaler Gerechtigkeit behaupten, übersehen jedoch den Unterschied zwischen Perelmans Prinzip der formalen Gerechtigkeit und dem Prinzip, gleiche Fälle gleich zu behandeln, so daß sie implizit eine Beziehung zwischen drei Prinzipien herstellen, die jedoch nur für zwei zutrifft. Da nahezu alle Autoren auf Perelman hinweisen, wenn sie die formale Gerechtigkeit erwähnen, auch wenn sie selbst es in der Form, gleiche Fälle gleich zu behandeln formulieren, ist es wichtig zu erkennen, daß Perelmans Begriff der formalen Gerechtigkeit nahezu nichts mit Universalisierbarkeit gemein hat.

Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, daß man beide Prinzipien als Konsistenzforderungen, die dem Ausschluß von Willkür dienen, interpretieren kann. Wenn man von Ross‘ unplausibler Position absieht, kann man noch als weitere Gemeinsamkeit konstatieren, daß beide Prinzipien keine hinreichenden Bedingungen der Gerechtigkeit sind.[57] Außerdem gilt trivialerweise, daß jede formal gerechte Handlung bzw. jedes formal gerechte Urteil universalisierbar ist: Eine formal gerechte Handlung ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie aus der Anwendung einer allgemeinen Regel, d.  h. eines universellen Urteils, folgt.

Der entscheidende Unterschied zwischen formaler Gerechtigkeit und Universalisierbarkeit liegt darin, daß sie genau gegenläufig sind: Formale Gerechtigkeit setzt Regeln voraus und besteht in der Anwendung dieser Regeln. Sie betrifft den Übergang von der Regel zum Einzelurteil. Universalisierbarkeit dagegen betrifft den Übergang vom Einzelurteil zur Regel. Sie setzt keine Regel voraus, sondern fordert, daß es zu jedem moralischen Einzelurteil eine Regel geben muß, aus der es folgt. Ihre argumentative Funktion besteht darin, Regeln zu finden bzw. aufzustellen, nicht darin sie anzuwenden.[58] Weitere Unterschiede sind:

Während manchmal die Auffassung vertreten wird, Universalisierbarkeit beinhalte einen Rollentausch, spielt dieser bei der formalen Gerechtigkeit keine Rolle.

Formale Gerechtigkeit ist regelrelativ: Ein und dasselbe Urteil kann sowohl formal gerecht als auch formal ungerecht sein, je nachdem auf welche Regel man sich bezieht. Ein Urteil kann jedoch nicht sowohl universalisierbar als auch nicht universalisierbar sein.

Schluß

Die Behauptung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit, ist, angewandt auf Rechtsordnungen, inkonsistent, angewandt auf Moralsysteme, unplausibel oder trivial. Zudem gibt es bisher keine Argumente für diese Behauptung. Mit ihrer Ablehnung muß auch das Prinzip der formalen Gerechtigkeit abgelehnt werden. In der Rechtsanwendung ist der Begriff der formalen Gerechtigkeit überflüssig, zur Rechtsetzungsgleichheit kann er nichts beitragen. Es gibt nichts, was dieser Begriff leisten könnte. Stattdessen begünstigt er (obwohl sie nicht aus ihm folgt) die unplausible und gefährliche Auffassung, daß die Anwendung der Gesetze ungerechter Rechtsordnungen gerecht sei.

Universalisierbarkeit bzw. das Prinzip, gleiche Fälle gleich zu behandeln, leistet genau das, was von der formalen Gerechtigkeit erhofft wurde, ohne den Einwänden gegen letztere ausgesetzt zu sein. Es gibt somit keinen Grund, an dem Begriff der formalen Gerechtigkeit festzuhalten.

Der Begriff der formalen Gerechtigkeit sollte aufgegeben werden.

Literaturverzeichnis

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Anmerkungen

[1]      Für wertvolle Kritik und Verbesserungsvorschläge danke ich Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten.

[2]      Diese Behauptung Perelmans ist allerdings falsch. Da die letzte Formel sich auf positive Gesetze bezieht, der Inhalt dieser Gesetze aber durch jede der fünf anderen Formeln festgelegt werden kann, ist diese Formel mit jeder anderen vereinbar.

[3]      Auf diesen Widerspruch weist auch Kelsen (1960, S. 398 Anm. 38) hin.

[4]      Perelman (1945, 54f.) (oben zitiert).

[5]      Wie später gezeigt wird, sind die Prämissen, auf denen dieser Versuch beruht, einen Widerspruch in Perelmans Argumentation auszuräumen, jedoch beide falsch: Gleichbehandlung ist auch möglich ohne die Anwendung von Regeln, und bei Regeln, die einen Interpretations- oder Entscheidungsspielraum zulassen und sowohl parteiisch wie unparteiisch angewendet werden können, folgt aus der Regelanwendung keine Gleichbehandlung; vgl. Abschn. 7 und 4.1.2.

[6]      Da Perelman immer von Regeln spricht, verwende ich „Regel“ in diesem Text als Oberbegriff für Prinzipien, Regeln, generelle Normen und positive Gesetze.

[7]      Wenn im folgenden von Regelanwendung die Rede ist, so ist stets die korrekte Regelanwendung gemeint. – Strenggenommen folgt nicht eine Handlung, sondern ein (singuläres) Handlungsgebot bzw. ein Urteil aus der Anwendung einer Regel.

[8]      Man beachte, daß Perelman statt von einer Definition der formalen Gerechtigkeit von einer formalen Definition der Gerechtigkeit spricht, vgl. unten FN 38.

[9]      Ich ziehe den Begriff „materiale Gerechtigkeit“ Perelmans „konkreter Gerechtigkeit“ vor.

[10]    Wenn „Gerechtigkeit“ bzw. „gerecht“ ohne Attribut verwendet wird, ist stets die materiale Gerechtigkeit gemeint.

[11]    Vgl. Weinberger (1974a, 38): „Das Prinzip der formalen Gerechtigkeit beruht auf dem Postulat der formalen Gleichheit. Formale Gleichheit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit [...].“ (Der Zusammenhang zwischen formaler Gleichheit und formaler Gerechtigkeit bei Weinberger ist unklar, da er beide Bezeichnungen für ein und dasselbe Prinzip verwendet; vgl. FN 54.)

[12]    Vgl. oben.

[13]    Perelman spricht ungenau (bzw. bezeichnenderweise) vom gerechten Akt (statt vom formal gerechten Akt); vgl. Perelman (1945, 57, 58).

[14]    Vgl. oben.

[15]    Vgl. Perelman (1945, 65): „Eine Handlung ist formal gerecht, wenn sie die Regel befolgt, die die Verpflichtung aufstellt, alle Wesen einer bestimmten Kategorie in einer bestimmten Weise zu behandeln.“

[16]    Vgl. Welding (1994, 27f., 34f.).

[17]    Vgl. Perelman (1945, 57): „Die formale Gerechtigkeit führt sich also höchst einfach auf die korrekte Anwendung einer Regel zurück. Diese Schlußfolgerung verdeutlicht unmittelbar, in welchem Maße die formale Gerechtigkeit das allen Konzeptionen der konkreten Gerechtigkeit gemeinsame Element darstellt. Zwar empfiehlt jede von ihnen eine andere Regel, alle jedoch versichern, gerecht sein heiße eine Regel anwenden – die ihrige. [...] Der gerechte Akt muß mit der Schlußfolgerung eines speziellen Syllogismus übereinstimmen.“ Zu dieser Stelle bemerkt Kelsen: „Wenn, wie Perelman hier behauptet, das Prinzip der gleichen Behandlung der zu derselben Kategorie Gehörigen eine Forderung der Logik ist, ist es kein Prinzip der Gerechtigkeit, auch nicht einer formalen Gerechtigkeit.“ (Kelsen 1960, 398 Anm. 38) Angesichts dieser Bemerkung ist die Behauptung Kollers (1992, 281), daß „selbst von Skeptikern wie Hans Kelsen, die jede Begründung gehaltvollerer Gerechtigkeitsforderungen für unmöglich halten“, das Prinzip der formalen Gerechtigkeit anerkannt wird, nicht haltbar.

[18]    Ein Richter, der grundsätzlich Schwarze schlechter behandelt als Weiße, wendet auch eine Regel (seiner persönlichen Moral) an. Die Frage nach der formalen Gerechtigkeit seiner Urteile kann sich jedoch in nicht-trivialer Weise nur darauf beziehen, ob sie mit den positiven Gesetzen, die er anzuwenden hat, übereinstimmen, nicht darauf, ob sie mit den Regeln seiner persönlichen Moral übereinstimmen.

[19]    Vgl. dazu unten.

[20]    Eine aus der Anwendung einer ungerechten Regel folgende Handlung kann nur dann gerecht sein, wenn sie auch aus der Anwendung einer gerechten Regel folgt.

[21]    Vgl. Abschn. 4.3.

[22]    Vgl. Sidgwick (1907, 267 Anm. 1): “It may be well to notice a case in which the very equality of application, which is [...] implied in the mere idea of a law couched in general terms, is felt to be unjust. This is the case where the words of a statute, either from being carelessly drawn, or on account of the inevitable defects of even the most precise terminology, include (or exclude) persons and circumstances which are clearly not included in (or excluded from) the real intent and purpose of the law. In this case a particular decision, strictly in accordance with a law which generally considered is just, may cause extreme injustice: and so the difference between actual Law and Justice is sharply brought out.”

[23]    Da gemäß dieser Auffassung nicht nur die Verletzung der Regeln gerechter Rechtsordnungen, sondern auch die Verletzung der Regeln ungerechter Rechtsordnungen prinzipiell ungerecht ist, läuft sie darauf hinaus, daß jede Verletzung gegebener Regeln ungerecht ist, unabhängig davon, ob die Regeln selbst gerecht oder ungerecht sind. In den Punkten 7 und 8 wurde jedoch gezeigt, daß formale Gerechtigkeit als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit nur bedeutet, daß die Verletzung gerechter Regeln ungerecht ist. Die Behauptung, daß jede Verletzung gegebener Regeln ungerecht sei, wurde in Punkt 9 als Trugschluß entlarvt. Wäre jede Verletzung gegebener Regeln ungerecht, so wäre formale Gerechtigkeit eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit.

[24]    Denn es gilt nun: Jede gerechte rechtliche Handlung innerhalb einer beliebigen Rechtsordnung (egal ob die Rechtsordnung gerecht oder ungerecht ist) ist formal gerecht bezüglich der jeweiligen Rechtsordnung, und jede bezüglich der jeweiligen Rechtsordnung formal gerechte Handlung ist gerecht.

[25]    Vgl. dazu unten Abschn. 4.2.

[26]    Man beachte, daß es hier nur darum geht, ob Billigkeitsentscheidungen und richterliche Rechtsfortbildung prinzipiell ungerecht sind, nicht darum, ob sie aus anderen Gründen verboten oder (nur eingeschränkt) erlaubt sein sollten.

[27]    Auch der ethische Partikularismus kann als Argument gegen diese These interpretiert werden.

[28]    Eine deontologische Auffassung ist jedoch kaum das gemeinsame Element aller Gerechtigkeitskonzeptionen.

[29]    Man erinnere sich an den engen Zusammenhang bei Perelman zwischen formaler Gerechtigkeit und der Logik der Regelanwendung, wie er z.  B. in folgender Stelle deutlich wird: „Die Anwendungsbedingungen der formalen Gerechtigkeit lassen sich auf drei Elemente eines imperativen Syllogismus zurückführen: a) die anzuwendende Regel, die den Obersatz des Syllogismus liefert; b) die Eigenschaften eines Wesens – die Tatsache, es als Mitglied einer bestimmten Kategorie zu betrachten – welche den Untersatz des Syllogismus liefern; c) der gerechte Akt, der mit der Schlußfolgerung des Syllogismus übereinstimmen muß.“ (Perelman 1945, 58)

[30]    Das folgende Argument ist nur eine grobe Skizze!

[31]    Gleiche Interessenberücksichtigung ist von gleicher Interessenbefriedigung zu unterscheiden. Erstere bedeutet nur, daß alle Interessen gleichermaßen in den Abwägungsprozeß eingehen und unparteiisch entschieden wird, welches Interesse schließlich befriedigt werden darf oder soll.

[32]    Vgl. oben bzw. Perelman (1945, 28, 58).

[33]    Vgl. Ross (1958, 272f.): “The formal demand for equality does not preclude a differentiation between persons under different circumstances. The only requirement is that the difference shall be motivated by the placing of the persons (in the light of certain relevant criteria) in different classes. The principle of equality itself, however, does not say which criteria are relevant. If this point is left open the demand for equality is reduced to a demand that all differentiation shall be contingent on general criteria (irrespective of which they are). But this is nothing more than a demand that the concrete treatment shall appear in the form of the application of a general rule (irrespective of which one). [...] The ideal of equality as such therefore simply means the correct application of a general rule (irrespective of which one).” (Hervorhebungen von mir. Die Forderung nach Gleichheit ist bei Ross gleichbedeutend mit der Forderung nach formaler Gerechtigkeit: “Justice in this formal sense (as synonymus with the demand for equality as such or with being bound by rules) [...].” (273)).

[34]    Vgl. FN 42.

[35]    Vgl. sein Kapitel „Die Willkür in der Gerechtigkeit“ (1945, 65–82).

[36]    „Diese [Haltung] besteht in der Wahl einer einzigen unter verschiedenen Konzeptionen der Gerechtigkeit, von welcher man uns zu überzeugen versuchen würde, daß sie die einzig zulässige, die einzig wahre, die einzig wirkliche und die zutiefst gerechte sei. Nun, es ist genau die Denkweise, die wir um jeden Preis vermeiden möchten und vor der wir auch den Leser gewarnt haben. Den Gründen, die man für die Wahl einer Konzeption hätte, würden Gegner genauso triftige Gründe für die Wahl einer anderen gegenüberhalten; statt eine Übereinstimmung der Beteiligten zu erzielen, würde die Erörterung lediglich dazu dienen, sie nur um so kräftiger aufeinanderprallen zu lassen, je heftiger ein jeder seine eigene Auffassung verteidigte. Jedenfalls wäre man mit der Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs nicht sehr viel weiter gekommen.“ (Perelman 1945, 21) Auch Perelman ist mit seiner Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs nicht sehr viel weiter gekommen: Entweder er ist der Auffassung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit. Dann muß man sich für bestimmte Gerechtigkeitsregeln entscheiden, wobei aber der Begriff der formalen Gerechtigkeit keinerlei Entscheidungshilfe gewährt. Das Aufeinanderprallen der verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen kann deshalb durch Einführung der formalen Gerechtigkeit nicht verhindert werden. Oder er ist der Auffassung, formale Gerechtigkeit sei eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit. Damit hätte er aber den anderen Gerechtigkeitskonzeptionen nur eine weitere (besonders unplausible) hinzugefügt.

[37]    Ross‘ Argument für seine Auffassung kann grob wie folgt rekonstruiert werden: In der Idee der Gerechtigkeit sei die Forderung nach Gleichbehandlung enthalten. Da die Nichtbeachtung tatsächlich vorhandener Ungleichheiten ungerecht wäre, könne keine absolute Gleichbehandlung intendiert sein, sondern nur die Gleichbehandlung Gleicher. Dies setze Kriterien voraus, die festlegen, was als gleich gilt. Aus dem Gebot der Gleichbehandlung Gleicher ließen sich diese Kriterien aber nicht ableiten. Also gebe es keine solchen Kriterien. Also bestehe Gerechtigkeit nur in der korrekten Anwendung irgendwelcher Regeln und auf die Regeln selbst sei der Begriff der Gerechtigkeit nicht anwendbar (vgl. Ross 1958, 269–74). Ein Kommentar zu diesem „Argument“ ist nicht nötig. Es sei lediglich auf die Inkonsistenz hingewiesen, die darin besteht, einerseits Kriterien der Gerechtigkeit abzulehnen, andererseits aber eine notwendige und hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit (nämlich die Regelanwendung) zu formulieren.

[38]    Perelman entgeht wohl auch die Tatsache, daß „Gerechtigkeit“ und „formale Gerechtigkeit“ zwei verschiedene Begriffe sind, da er sowohl von einer „Definition der formalen Gerechtigkeit“ (30) spricht, als auch davon daß „[u]nsere Definition der Gerechtigkeit [...] formal“ ist (28). Eine Definition der formalen Gerechtigkeit ist jedoch keine formale Definition der Gerechtigkeit.

[39]    Vgl. Stevenson (1938).

[40]    Alexy (1985, 358).

[41]    Mir geht es im folgenden nur um die parteiische bzw. unparteiische Bestimmung der Rechtsfolge und nicht um die parteiische bzw. unparteiische Beschreibung eines rechtlich relevanten Sachverhalts und dessen Subsumtion unter einen Tatbestand.

[42]    Vgl. Welding (1985, 93): „Worin besteht eigentlich [...] der spezifisch-normative Gehalt der Forderung nach Rechtsanwendungsgleicheit? Der wesentliche Punkt ist der, daß jeder (sekundären) Norm einer geltenden Rechtsordnung eo ipso die Forderung nach ihrer korrekten Anwendung zugrunde liegt. In einer inkorrekten Anwendung einer Norm haben wir eine Verletzung dieser Norm zu sehen. Es wäre ein Widerspruch in sich von einer Norm, deren Geltung nicht bezweifelt wird, zu behaupten, mit dieser Norm werde kein Anspruch auf ihre korrekte Anwendung erhoben. [...] Enthält jede Norm einer geltenden Rechtsordnung eo ipso die Forderung nach ihrer korrekten Anwendung, dann kann dieser Forderung kein eigenständiger oder besonderer Gehalt zukommen; denn diese Forderung folgt aus dem Begriff der (sekundären) Norm und läßt sich daher überhaupt nicht als eine besondere Norm oder Grundnorm konzipieren. Natürlich kann man auf die Forderung nach Rechtsanwendungsgleichheit für die Organe der Rechtsanwendung besonders hinweisen oder die Bedeutsamkeit dieser Forderung besonders erläutern, aber daraus folgt nicht, daß dieser Forderung durch die Geltung einer besonderen Norm oder Grundnorm Nachdruck zu verleihen wäre.“ Vgl. auch Alexy (1985, 358): „Daß die Rechtsnormen zu befolgen sind, sagen diese aber bereits selbst, indem sie ein Sollen ausdrücken. Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit fordert insofern nur, was ohnehin gilt, wenn Rechtsnormen gelten. Es bekräftigt die Bindung der rechtsanwendenden Organe an die durch den Gesetzgeber gesetzten Normen, ohne irgendwelche Anforderungen an den Inhalt dieser Normen zu stellen, also ohne den Gesetzgeber zu binden.“

[43]    Unter dieser Interpretation formuliert der oben zitierte Satz Alexys, Rechtsanwendungsgleichheit sei gegeben, wenn „jede Rechtsnorm auf jeden Fall, der unter ihren Tatbestand fällt, und auf keinen Fall, der nicht unter ihren Tatbestand fällt, angewendet wird“, nur eine notwendige Bedingung der Rechtsanwendungsgleichheit.

[44]    In der oben eingeführten Terminologie ausgedrückt, entsteht das Problem der Billigkeit, weil Rechtsordnungen unterdeterminierte Regelsysteme sind.

[45]    Allerdings identifiziert Weinberger das Prinzip der formalen Gerechtigkeit mit der Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln. Mit dieser Forderung sind Billigkeitsentscheidungen vereinbar, so daß sein Argument für diese Version des Prinzips der formalen Gerechtigkeit gültig ist. Weinberger hält jedoch diese Version für logisch äquivalent mit dem Prinzip, nach allgemeinen Regeln zu handeln und bemerkt nicht den Unterschied zwischen beiden Prinzipien; vgl. unten Abschn. 7.

[46]    Vgl. dazu Lyons (1973; 1984, 78–87).

[47]    Vgl. dazu Lyons (1973): “Some writers have held that injustice is done whenever an official fails to act within the law, regardless of the circumstances. I shall call this type of view “formal justice”.” (833) “This view identifies conformity to law not with justice overall but with justice in the administration of the law, and thus with justice in the conduct of public officials.” (836) “At minimum, a formalist maintains that acting within the law is a necessary condition of justice in its administration, and thus that any official deviation is an injustice. Formal justice thus implies that there is always a real moral objection to official deviation from the law – however iniquitous the laws may be, whatever they require or allow, however horrendous the consequences of official obedience, and regardless of all other circumstances. Formal justice holds that this objection cannot be diminished even by full knowledge of all the relevant facts. In other words, formal justice maintains that official departure from the law is like the breach of a basic moral principle.” (840)

[48]    Vgl. dazu das Argument oben.

[49]    „Das PFG ist wertneutral; es kann nicht als Gerechtigkeitsmaßstab fungieren. Es läßt jede Differenzierung der Subsumtionsbedingungen zu“ (Weinberger 1974b, 193). „Die formale Gleichheit schließt die Differenzierung des rechtlichen Sollens nicht aus, nicht einmal eine Kastengesellschaft oder undemokratische elitäre Unterscheidungen von Rechtspositionen“ (Weinberger 1974a, 30).

[50]    Vgl. Lyons (1973, 854): “[A]ppeal to impartiality goes beyond the ideas of proceeding by rule and treating like cases alike. This point should be emphasized. Impartiality is not implicit in the ideas of treating like cases alike or proceeding by rule. Although impartiality may require some kind of uniform behavior, merely to deal with cases in a uniform manner is not to be impartial. An offical might systematically favor one group over others as a consequence of personal prejudice or interest, and get uniform results. Likewise, impartiality is not implicit in proceeding by rule, because rules leave areas of discretion.”

[51]    Wenn zugestanden wird, daß Gesetze mit Entscheidungsspielraum sowohl parteiisch wie unparteiisch angewendet werden können, ist auch ein eigenes Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sinnvoll. Damit kann der allgemeine Gleichheitssatz „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ als Gebot der Rechtsetzungsgleichheit und der Rechtsanwendungsgleichheit interpretiert werden. Weldings Argumente, den allgemeinen Gleichheitssatz nur als Gebot der Rechtsetzungsgleichheit zu interpretieren, sind nur einschlägig, wenn die Möglichkeit der parteiischen Anwendung von Gesetzen ausgeschlossen wird, d.  h. wenn jede parteiische Anwendung von Gesetzen eo ipso eine Verletzung dieser Gesetze ist; vgl. Welding (1985; 1986; 1994, Kap. 3).

[52]    Vgl. Hare (1981, d221/e157): „Wir sind formal ungerecht, falls wir über identische Fälle anderslautende moralische Urteile fällen und ihnen gemäß handeln.“

[53]    Vgl. Koller (1992, 280): „[D]as ist die Forderung, andere Personen unter gleichartigen Umständen gleich zu behandeln, oder kurz: Gleiches gleich zu behandeln. Diese Forderung, die als das Prinzip der formalen Gerechtigkeit bezeichnet wird, bedeutet, daß man in allen Situationen, in denen Gerechtigkeit gefordert ist, nach allgemeinen Regeln handeln soll.“ Vgl. auch Koller (1995, 54f.).

[54]    An anderen Stellen bezeichnet Weinberger dieses Prinzip als „Prinzip der formalen Gerechtigkeit“; vgl. z.  B. (1974b, 173).

[55]    Dieses Argument findet sich in ähnlicher Form in Weinberger (1974b, 174).

[56]    Vgl. auch Lyons (1973, 852): “[T]he notion of applying a rule is clearly not equivalent to that of treating like cases alike. The precept “treat like cases alike” makes no reference to rules at all. It can be followed by devising a uniform treatment of cases even when no relevant rules exist, for example, by comparing current cases among themselves. When a judge does this, he cannot be construed to be following an existing legal rule, even though he may create a new one. It is also possible to apply an existing rule without treating like cases alike, for example, by applying a rule for the first time to the case at bar.”

[57]    Dies gilt selbst für Hare, der zur Begründung seines Utilitarismus neben der Universalisierbarkeit noch andere Prämissen benötigt; vgl. Hare (1988, 250; 1995, 290f.).

[58]    Vgl. Bennett (1960). – Natürlich werden die Regeln aufgestellt, um sie auch anzuwenden, aber die Anwendung selbst hat nichts mehr mit Universalisierbarkeit zu tun. (A fortiori beinhaltet Universalisierbarkeit nicht die Forderung der ausnahmslosen Anwendung gegebener Regeln, sondern läßt im Gegenteil universalisierbare Ausnahmen zu.)



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