Proseminar SoSe 2001: Ethischer Relativismus
Handout 15: von Menschen aus anderen Kulturen Das Argument für den (metaethischen) Kulturrelativismus soll folgende Thesen begründen: - Moralprinzipien sind kulturrelativ: Sie gelten nur innerhalb einer bestimmten Kultur. - Es gibt keine universell gültigen, d. h. für alle Menschen gültigen Moralprinzipien. - Die Moralprinzipien der verschiedenen Kulturen sind gleich gültig bzw. gleich berechtigt. Es gibt keine Möglichkeit, die Moralprinzipien der verschiedenen Kulturen zu bewerten und zu vergleichen. - Es ist sinnlos, die Moralprinzipien der eigenen Kultur auf fremde Kulturen anzuwenden. Man kann also nicht die Moralprinzipien anderer Kulturen moralisch beurteilen (indem man sie an den Moralprinzipien der eigenen Kultur mißt). Was aber folgt aus diesen Thesen hinsichtlich der moralischen Beurteilung der Handlungen von Menschen aus anderen Kulturen? Kann man als RelativistIn die Handlungen von Menschen aus anderen Kulturen moralisch beurteilen? Da Moralprinzipien nur innerhalb einer bestimmten Kultur gelten und es sinnlos ist, die Moralprinzipien der eigenen Kultur auf fremde Kulturen anzuwenden, kann man die Handlungen von Menschen aus anderen Kulturen nicht moralisch beurteilen, indem man prüft, ob diese Handlungen gemäß unseren Moralprinzipien moralisch richtig oder falsch sind. Wenn also Eltern in einem Land, in dem weibliche genitale Verstümmelung moralisch erlaubt ist, ihre Tochter beschneiden lassen, so können wir diese Handlung nicht deshalb moralisch verurteilen, weil in unserer Kultur genitale weibliche Verstümmelung moralisch nicht erlaubt ist. (Würden wir dies tun, so würden wir unsere Moralprinzipien auf eine andere Kultur anwenden.) Folgt daraus, daß wir gar kein Moralurteil über die Handlung der Eltern fällen können? Oder folgt daraus, daß wir ihre Handlung für moralisch richtig halten müssen? Müßten wir es für moralisch falsch halten, wenn die Eltern sich weigerten, ihre Tochter beschneiden zu lassen? Da wir die Handlungen von Menschen aus anderen Kulturen nicht anhand unserer Moralprinzipien moralisch beurteilen können, können wir sie nur – wenn überhaupt – anhand der Moralprinzipien ihrer Kultur moralisch beurteilen. Wenn wir die Handlung der Eltern moralisch beurteilen können, dann müßten wir also urteilen, daß es moralisch richtig ist, ihre Tochter beschneiden zu lassen und moralisch falsch, sie nicht beschneiden zu lassen. Das von uns gefällte Moralurteil "Es ist moralisch richtig, wenn die Eltern ihre Tochter beschneiden lassen“, darf nicht verwechselt werden mit dem deskriptiven Urteil "Gemäß den Moralprinzipien ihrer Kultur ist es moralisch richtig, wenn die Eltern ihre Tochter beschneiden lassen“. Das deskriptive Urteil beinhaltet keinerlei moralische Wertung unsererseits. Als ethische Absolutisten könnten wir das deskriptive Urteil fällen und hinzufügen, daß wir die Handlung dennoch für moralisch falsch halten. Wir könnten also urteilen: "Gemäß den Moralprinzipien ihrer Kultur ist es zwar moralisch richtig, wenn die Eltern ihre Tochter beschneiden lassen. Trotzdem ist diese Handlung moralisch falsch.“ RelativistInnen, die das deskriptive Urteil, "Gemäß den Moralprinzipien ihrer Kultur ist es moralisch richtig, wenn die Eltern ihre Tochter beschneiden lassen“ akzeptieren, können also nicht das Moralurteil fällen: "Es ist moralisch falsch, wenn die Eltern ihre Tochter bechneiden lassen“. Die Frage ist, ob RelativistInnen überhaupt kein Moralurteil über die Handlung der Eltern fällen können oder ob sie das folgende zustimmende Moralurteil fällen können bzw. müssen: (M) "Es ist moralisch richtig, wenn die Eltern ihre Tochter beschneiden lassen“. Was spricht dagegen, daß RelativistInnen (M) äußern können? 1. Moralprinzipien (und folglich auch einzelne Moralurteile) gelten laut Relativismus nur innerhalb einer bestimmten Kultur und es ist sinnlos, sie auf andere Kulturen anzuwenden. Mit (M) fällen wir aber ein Moralurteil, das wir auf eine andere Kultur anwenden. Man könnte also argumentieren, daß dieses Moralurteil sinnlos ist. 2. Wenn wir das Moralurteil (M) fällen, weil in der fremden Kultur die Handlung der Eltern moralisch richtig ist, so setzen wir folgendes Moralprinzip voraus: (MU) "Jede Person soll gemäß den in ihrer Kultur gültigen Moralprinzipien handeln“. (MU) ist ein universell gültiges Moralurteil, das für alle Menschen gilt. Da eine der Thesen des metaethischen Kulturrelativismus besagt, daß es keine universell gültigen Moralprinzipien gibt, würde eine Person, die (MU) gleichzeitig mit dem metaethischen Kulturrelativismus vertritt, sich selbst widersprechen. (MU) scheint daher mit dem metaethischen Kulturrelativismus unvereinbar zu sein. (Wir fällen das Moralurteil (M), weil die Handlung der Eltern in dieser fremden Kultur erlaubt ist. Entsprechend müßten wir bezüglich einer anderen fremden Kultur ebenfalls urteilen, daß Personen, die eine in dieser Kultur erlaubte Handlung ausführen, moralisch richtig handeln. Dasselbe gilt für jede fremde Kultur. Wenn wir bezüglich einer fremden Kultur das Urteil (M) fällen, müssen wir (da wir keine besonderen Annahmen über diese Kultur gemacht haben) bezüglich jeder fremden Kultur ein analoges Urteil fällen. Daher können wir das Moralurteil (M) nur dann fällen, wenn wir auch das Moralurteil "Jede Person soll gemäß den in ihrer Kultur gültigen Moralprinzipien handeln“ akzeptieren.) Frequently a relativist concludes that people ought to obey the rules of their society or group without realizing that this is in fact an absolutist thesis. This position, therefore, is incoherent. Sometimes the relativist inconsistently derives the claim that one should be tolerant of those who disagree with one on moral issues – another absolutist thesis – from the claim that no set of moral beliefs is more correct than any other. (Arrington, Robert L. (1989): Rationalism, Realism, and Relativism. Perspectives in Contemporary Moral Epistemology, Ithaca. S. 201) Ein Argument dafür, daß RelativistInnen (M) und (MU) äußern können und sogar äußern müssen: Moralprinzipien einer Kultur gelten für die MitgliederInnen dieser Kultur. Wenn ein Moralprinzip in einer Kultur gültig ist, dient dieses Moralprinzip den MitgliederInnen der Kultur als Kriterium, um zu entscheiden welche Handlungen man (nicht) ausführen soll sowie als Kriterium zur moralischen Beurteilung von Handlungen. Ein Moralprinzip schreibt vor, was man tun (bzw. nicht tun) soll. Man soll tun, was man tun soll. => Wenn ein Moralprinzip gültig ist, dann soll man dem Prinzip gemäß handeln. => Wenn ein Moralprinzip in einer Kultur gültig ist, dann sollen die MitgliederInnen dieser Kultur dem Prinzip gemäß handeln. Die Moralprinzipien jeder Kultur sind gleich gültig. (Kulturrelativismus) => Für jede Person gilt, sie soll gemäß den in ihrer Kultur gültigen Moralprinzipien handeln. In Kultur B gilt: "Du sollst nicht abtreiben". Die Moralprinzipien der verschiedenen Kulturen sind gleich gültig. (Kulturrelativismus) => Es gilt: "Mitglieder der Kultur B sollen nicht abtreiben". => Jeder (egal aus welcher Kultur) kann das Moralurteil fällen: "MitgliederInnen der Kultur B sollen nicht abtreiben". => Jeder (egal aus welcher Kultur) kann das Moralurteil fällen: "Jede Person soll gemäß den Moralprinzipien ihrer Kultur handeln". Wie ist dieses Argument mit den oben genannten Einwänden gegen (MU) zu vereinbaren? 1. Die Prämissen "Ein Moralprinzip schreibt vor, was man tun (bzw. nicht tun) soll" sowie "Man soll tun, was man tun soll" sind rein formale Aussagen über die Moral, die von jeder Moral gelten (egal aus welchen inhaltlichen moralischen Prinzipien sie besteht). Diese Aussagen gehören zum Begriff der Moral und gelten daher von jeder Moral. 2. Die Argumente der KulturrelativistInnen bezogen sich nur auf die Inhalte der Moral, also auf bestimmte Moralprinzipien, die von Kultur zu Kultur verschieden sein können. Auf die formalen Aussagen über die Moral sind die relativistischen Argumente nicht anwendbar. (Obwohl (MU) als absolutistisches Prinzip dem metaethischen Kulturrelativismus zu widersprechen scheint, werden gerade AbsolutistInnen dieses Prinzip nicht vertreten. Wenn in einer Kultur Moralprinzipien akzeptiert werden, die AbsolutistInnen für falsch halten, werden sie (möglicherweise) der Meinung sein, daß die MitgliederInnen dieser Kultur sich nicht daran halten sollen. Paradoxerweise ist es also so, daß RelativistInnen das absolutistische Prinzip (MU) vertreten müssen, während AbsolutistInnen es in der Regel ablehnen werden.) |