Proseminar SoSe 2001: Ethischer Relativismus
Handout 11: Zu Cook, Kap. 9–12 (S.
82-108) Gibt es empirische Belege
für den Relativismus? Die
EthnologInnen behaupten, daß ihre Erforschung der unterschiedlichen Kulturen
gezeigt hat, daß die Moral kulturrelativ ist, d. h., daß der (metaethische)
Kulturrelativismus wahr ist. Daher läßt sich
fragen: Welche ethnologischen Daten und Entdeckungen zeigen die Wahrheit des
Relativismus? Welche ethnologischen Daten und Entdeckungen könnten Personen,
die noch keine RelativistInnen sind, dazu bringen, RelativistInnen zu werden? Es müssen Daten
sein, die zeigen, daß verschiedene Kulturen eine unterschiedliche Moral (different
moralities) haben. (82) Die
Moral zweier Kulturen ist verschieden, wenn eine Handlungsweise, die in einer
Kultur moralisch verboten ist, in der anderen Kultur moralisch erlaubt oder
geboten ist. => Die Daten
bestehen also (a) in der Beschreibung einer Handlungsweise und (b) der Beobachtung,
daß diese Handlungsweise in einer Kultur moralisch verboten und in einer
anderen Kultur moralisch erlaubt oder geboten ist. Typ-A-Fälle:
(83) Handlungsweisen,
die in einer Kultur moralisch verboten sind, aber in einer anderen Kultur
moralisch geboten oder erlaubt sind. Beispiel für
eine Handlungsweise, die in einer Kultur verboten, in einer anderen geboten
ist: Ehrentötungen von unverheirateten schwangeren Frauen. Um
herauszufinden, ob Länder verschiedene Verkehrsregeln haben, muß man nur das
Verhalten und die Äußerungen der VerkehrsteilnehmerInnen beobachten. => Wenn moralische Regeln von der gleichen
Art sind wie Verkehrsregeln, gilt: Um
herauszufinden, ob Kulturen eine unterschiedliche Moral haben, muß man nur das
Verhalten und die Äußerungen der MitgliederInnen der Kulturen beobachten. D. h., wenn
moralische Regeln von der gleichen Art sind wie Verkehrsregeln, gilt: Wenn eine
Handlungsweise, die in einer Kultur moralisch verboten ist, in einer anderen
Kultur moralisch geboten ist, dann haben die beiden Kulturen eine
unterschiedliche Moral. Die
relativistische Auffassung der Moral ist, daß moralische Regeln von der
gleichen Art sind wie Verkehrsregeln. => Wenn die relativistische Auffassung der
Moral richtig ist, gilt: Wenn eine Handlungsweise, die in einer Kultur
moralisch verboten ist, in einer anderen Kultur moralisch geboten ist, dann
haben die beiden Kulturen eine unterschiedliche Moral. D. h., wenn die
relativistische Auffassung der Moral richtig ist, dann zeigen Typ-A-Fälle, daß
Kulturen eine unterschiedliche Moral haben. => Zur Begründung des Relativismus wird der
Relativismus schon als wahr vorausgesetzt. (84f.)
Folgende zwei
Behauptungen müssen unterschieden werden: 1. Wenn zwei Kulturen eine unterschiedliche Moral
haben, dann gibt es Typ-A-Fälle. 2. Wenn es Typ-A-Fälle gibt, dann haben zwei
Kulturen eine unterschiedliche Moral. RelativistInnen
müssen die zweite Behauptung begründen (ohne den Relativismus vorauszusetzen),
d. h. sie müssen begründen, daß Typ-A-Fälle zeigen, daß zwei Kulturen eine
unterschiedliche Moral haben. In dem oben dargestellten Argument haben sie jedoch
nur folgendes gezeigt: Wenn die
relativistische Auffassung der Moral richtig ist, dann zeigen Typ-A-Fälle, daß
Kulturen eine unterschiedliche Moral haben. Um den
Relativismus zu begründen, müßte also folgendes begründet werden: Typ-A-Fälle
zeigen, daß Kulturen eine unterschiedliche Moral haben. Unsere normale
Reaktion auf Typ-A-Fälle ist jedoch nicht, daß wir sagen, hier besteht eine
unterschiedliche Moral, sondern, daß eine der beiden Handlungsweisen moralisch falsch
ist. D. h. bei
unserer normalen Reaktion sind Typ-A-Fälle kein Grund für die Annahme, daß zwei
Kulturen eine unterschiedliche Moral haben. Nur wenn wir schon RelativistInnen
sind, sind Typ-A-Fälle ein Grund für diese Annahme. => Das Vorkommen von Typ-A-Fällen ist kein
guter Grund, Relativist zu werden. Gibt es andere
Fälle, die die EthnologInnen dazu verleiten konnten RelativistInnen zu werden? D. h., gibt
es andere Fälle, die scheinbar die ethnologischen Daten für den Relativismus,
liefern könnten - Fälle, die zu belegen scheinen, daß Kulturen eine
unterschiedliche Moral haben? Diese Fälle müßten zwei
Bedingungen genügen: (88f.) (i) Wie in Typ-A-Fällen müßten es Fälle sein, in
denen eine Handlungsweise, die in einer Kultur moralisch verboten ist, die
gleiche Handlungsweise ist oder zu sein scheint, die in einer andern Kultur
moralisch geboten oder geboten ist. (ii) Die Handlungsweise, die in einer Kultur
erlaubt oder geboten ist, darf nicht eine solche sein, die Nicht-RelativistInnen
für offensichtlich grausam, brutal, unfair usw. halten. Denn: Wenn es
Handlungsweisen wären, die Nicht-RelativistInnen (bzw.
Noch-Nicht-RelativistInnen) für offensichtlich grausam usw. halten würden, dann
würden die Nicht-RelativistInnen nicht auf die Kulturrelativität der Moral
schließen, sondern einfach die moralische Verwerflichkeit dieser
Handlungsweisen behaupten. Damit die beiden Bedingungen sich nicht
gegenseitig aufheben, kommt es auf den Ausdruck "zu sein scheint" in Bedingung
(i) an, so daß folgende Fälle EthnologInnen zu der Annahme verleiten konnten,
daß Kulturen eine unterschiedliche Moral haben: Typ-B-Fälle:
(89) Eine
Handlungsweise, die in einer Kultur moralisch verboten ist, scheint die gleiche
Handlungsweise zu sein, die in einer anderen Kultur moralisch geboten oder
erlaubt ist, ist aber in Wirklichkeit nicht die gleiche Handlungsweise. Wenn
EthnologInnen aufgrund von Typ-B-Fällen glauben, Belege dafür gefunden zu
haben, daß Kulturen eine unterschiedliche Moral haben, begehen sie den
Projektionsirrtum. (89) Den
Projektionsirrtum begeht man, wenn man die Handlungsweisen der Menschen anderer
Kulturen aufgrund der folgenden Umstände mißversteht: (i) Man kennt die Motive und Gründe dieser
Menschen nicht. (ii) Ihre Handlungsweisen scheinen Handlungsweisen
zu gleichen, die auch in der Kultur der BeobachterInnen vorkommen (können). Der
Projektionsirrtum besteht darin, daß man eine Handlungsweise einer anderen
Kultur mit einer Handlungsweise der eigenen Kultur identifiziert, obwohl es in
Wirklichkeit zwei verschiedene Handlungsweisen sind. (93) Der
Projektionsirrtum allein verleitet noch niemanden zum Relativismus. Auch
AbsolutistInnen können den Projektionsirrtum begehen und dann aufgrund dieses
Irrtums urteilen, daß die Kultur, die diejenige Handlungsweise verbietet, die
(scheinbar) in der eigenen Kultur geboten ist, moralisch falsch handelt. Es muß
daher noch etwas anderes hinzukommen, um RelativistIn zu werden. Fiktives
Beispiel: (89ff.) 1. Wenn die Söhne der Mobimtu ein bestimmtes
Alter erreicht haben, erzählen ihre Väter ständig sehr viel Lobendes über sie. 2. Dieses Verhalten erinnert uns an
Aufschneiderei, Prahlerei. 3. Wir erkennen, daß das Aufschneiden nur unter
bestimmten Bedingungen auftritt und eine bestimmte soziale Funktion erfüllt. 4. Daraus schließen wir, daß es falsch ist, das
Aufschneiden der Mobimtu-Väter für moralisch falsch zu halten. Sie sehen nichts
Falsches darin und es erfüllt einen wertvollen Zweck. Sie haben einfach eine
andere Moral wie wir: Wir halten Aufschneiderei für falsch, sie nicht. Ausdehnung auf Typ-A-Fälle (mit Hilfe
des vollständigen Arguments von S. 11): 5. Die Tatsache, daß Kulturen eine
unterschiedliche Moral haben, zeigt, daß die Moral durch Enkulturation
erworben wird und daher keine rationale Grundlage hat. ... 6. Es ist nicht möglich Kulturen moralisch zu
verurteilen, die Handlungsweisen erlauben oder gebieten, die wir für grausam
usw. halten. Fehler in diesem
Argument: 1. Projektionsirrtum: Die Handlungsweise der
Mobimtu-Väter wird für Aufschneiderei gehalten, obwohl sie nicht dem entspricht,
was in unserer Kultur Aufschneiderei ist. 2. Das relativierende Argument (the
Relativizing Ploy): Man sieht, daß die Handlungsweise, die man (aufgrund
des Projektionsirrtums) für Aufschneiderei hält, bei den Mobimtu für richtig
gehalten wird und schließt daraus auf die unterschiedliche Moral beider
Kulturen. Erklärungen zu Cook, S. 97ff. (zitiert
nach http://www.xrefer.com) Kwakiutl A
North American Indian people of the coastal region of British Columbia. They
speak a Wakashan language. Their vigorous traditional culture was typical of
the NW coast and characterized by extreme competition for status and rank
through ostentatious disposal and even destruction of wealth (see potlatch ).
There was an elaborate religious and ceremonial life and a distinctive artistic
tradition based upon carving of wooden totem poles, masks, and other objects.
Their economy was based on an abundance of salmon and other fish, game, and
wild fruits and agriculture was not practised. (The Macmillan Encyclopedia 2001, © Market House Books Ltd 2000) potlatch The
ceremonial distribution of gifts, practised by the American Indians of the NW
Pacific coast region, in order to affirm claims to rank and status at lavish
feasts, to which rivals were invited. Gifts had to be returned with interest at
subsequent potlatches to avoid humiliation. Among the Kwakiutl , potlatching
developed to an exaggerated extent often involving the destruction of property.
The practice continued clandestinely after its prohibition by the Whites. (The Macmillan Encyclopedia 2001, © Market House Books Ltd 2000) potlatch A
ritual based on gift exchange found among American Indians of the north-west
Pacific region. Potlatches were ritual feasts in which competitors for
positions of status sought to outdo each other by giving ever more lavish
gifts. The arrival of Europeans in the area during the 19th century, and the
changes this brought to the local economy, caused a huge escalation in the
scale of potlatches. Large quantities of European trade goods like blankets
were not only given away but were also publicly destroyed to force a rival to
equal the gesture. (Oxford Paperback
Encyclopedia, © Oxford
University Press 1998) |