Proseminar SoSe 2001: Ethischer Relativismus
Handout 5: Zu Cook, Kap. 1 (S. 7-12) Argumente für den Kulturrelativismus Vertreterinnen
und Vertreter des Relativismus betrachten ihre Theorie als Alternative zum
Absolutismus. Absolutismus:
(S. 7f.) 1. Es gibt moralische Prinzipien, die für alle
Menschen gelten - auch für diejenigen Menschen, die diese Prinzipien nicht
anerkennen und sich nach anderen Prinzipien richten. (Aus Sicht des
Absolutismus sind diese anderen Prinzipien natürlich falsch.) 2. Die Menschen können diese universell gültigen
moralischen Prinzipien erkennen. 3. Wir haben diese Prinzipien bereits erkannt und
können daher das Verhalten aller anderen Menschen anhand dieser Prinzipien
moralisch beurteilen. (= Ethnozentrismus) Skeptizismus
vs. Absolutismus vs. Relativismus:
Die
relativistischen Ethnologinnen und Ethnologen stört besonders der mit dem
Absolutismus verbundene Ethnozentrismus, da dieser eine Haltung der moralischen
Überlegenheit und Intoleranz mit sich bringt. (S. 8) Ethnozentrismus:
(S. 8) 1. Wir glauben, daß wir die für alle Menschen
gültigen Moralprinzipien erkannt haben. 2. Genau die gleichen Handlungen, die wir in
unserer Kultur moralisch verurteilen, verurteilen wir auch in anderen Kulturen
- selbst dann, wenn niemand in den anderen Kulturen diese Handlungen für
moralisch falsch hält. Die
relativistischen Ethnologinnen und Ethnologen greifen den Ethnozentrismus an,
indem sie (versuchen zu) zeigen, daß es ein Fehler ist, zu glauben, wir können
die für alle Menschen gültigen Moralprinzipien erkennen. Dies ist ihrer Meinung
nach deshalb ein Fehler, weil ihre empirischen Forschungen gezeigt haben, daß
Moral kulturrelativ ist und es daher gar keine universell gültigen
Moralprinzipien gibt. (8f.) Manche
relativistischen Ethnologinnen und Ethnologen scheinen der Meinung zu sein, die
empirische Entdeckung, daß verschiedene Kulturen unterschiedliche Moralsysteme
haben, reicht alleine aus, um den Absolutismus zu widerlegen. Sie müßten das
folgende Argument für schlüssig halten: 1. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche
Moralprinzipien. 2. Also gibt es keine Moralprinzipien, die für
alle Menschen gelten. Die These des
Absolutismus, daß es Moralprinzipien gibt, die für alle Menschen gelten, ist
jedoch vereinbar mit der empirischen Tatsache, daß verschiedene Kulturen
unterschiedliche Moralprinzipien haben. Denn, daß verschiedene Kulturen
unterschiedliche Moralprinzipien haben, heißt nur, daß sie unterschiedliche
Prinzipien akzeptieren bzw. für gültig halten. Daraus, daß ein
Prinzip akzeptiert oder für gültig gehalten wird, folgt aber nichts über dessen
Gültigkeit. Daraus, daß unterschiedliche Prinzipien akzeptiert bzw. für gültig
gehalten werden, folgt also weder, (a) daß keines dieser unterschiedlichen
Moralprinzipien gültig ist, noch (b) daß alle diese unterschiedlichen
Moralprinzipien gleichermaßen gültig sind (relativ zur jeweiligen Kultur),
noch (c) daß es keine für alle Menschen gültigen
Moralprinzipien gibt. Ebensowenig
würde daraus, daß bestimmte Moralprinzipien von allen Menschen
akzeptiert werden, folgen, daß diese Prinzipien gültig sind. Es gilt daher: Die Akzeptanz
unterschiedlicher Moralprinzipien in verschiedenen Kulturen beweist nicht die Falschheit
des Absolutismus.[1] Die Akzeptanz
bestimmter Moralprinzipien in allen Kulturen beweist nicht die Richtigkeit des
Absolutismus. Um den
Absolutismus zu widerlegen benötigt man also ein zusätzliches (bzw. anderes)
Argument. Die Tatsache der kulturellen Verschiedenheit der Moralprinzipien
alleine reicht hierfür nicht aus. Dennoch ist die kulturelle Verschiedenheit
der Moralprinzipien etwas, für das es eine Erklärung geben muß. Das vollständige
Argument für den Kulturrelativismus: (S. 11) (Dis-)Analogie zwischen moralischen und
wissenschaftlichen Überzeugungen 1. Zu wissenschaftlichen Überzeugungen gelangen
wir durch ein rationales Verfahren, mit dem wir Tatsachen entdecken. 2. Wir können daher (berechtigterweise) die
Überzeugungen anderer Kulturen, die unseren wissenschaftlichen Überzeugungen
widersprechen, kritisieren (z. B. die Überzeugung, daß Krankheit durch Hexerei
verursacht wird). 3. => Wenn wir unsere moralischen Überzeugungen auf die gleiche
Weise wie wissenschaftliche Überzeugungen erlangen würden, könnten wir auch
diejenigen moralischen Überzeugungen anderer Kulturen, die unseren moralischen
Überzeugungen widersprechen, (berechtigterweise) kritisieren. Argument aus der kulturabhängigen
Variation der Moralprinzipien gegen die Objektivität der Moral 4. Empirische Untersuchungen zeigen, daß
Moralprinzipien von Kultur zu Kultur variieren. 5. Diese kulturabhängige Variation der
Moralprinzipien würde nicht bestehen, wenn es objektive moralische Tatsachen
gäbe, die jeder Mensch erkennen kann (genauso wie jeder Mensch erkennen kann,
daß der Himmel blau ist). 6. => Wir gelangen zu unseren moralischen Überzeugungen nicht
durch ein rationales Verfahren, mit dem wir objektive moralische Tatsachen
entdecken. Erklärung der kulturabhängigen Variation
der Moralprinzipien durch die Art, wie wir Moralprinzipien lernen 7. => Wir gelangen zu unseren moralischen Überzeugungen durch den
bloß kausalen Prozeß der Enkulturation. Argument dagegen, daß wir wissen, daß
unsere moralischen Überzeugungen wahr (bzw. universell gültig) sind 8. => Wir haben keine guten Gründe für unsere moralischen
Überzeugungen. 8a. Wir glauben, daß es
universell gültige moralische Wahrheiten gibt, weil wir der Meinung sind, daß
wir von unseren Moralprinzipien wissen, daß sie wahr sind (bzw. universell gültig
sind). 8b. Menschen anderer
Kulturen sind auch der Meinung, daß sie von ihren Moralprinzipien
wissen, daß sie wahr (bzw. universell gültig) sind. 8c. Ebenso wie die
Menschen anderer Kulturen lernen auch wir unsere Moralprinzipien nur durch
Enkulturation. 8d. => Die Menschen anderer Kulturen haben die
gleiche Gewißheit, daß ihre Prinzipien wahr sind, wie wir, daß unsere
Prinzipien wahr sind. 8e. => Wenn wir bei anderen Kulturen das
"Wissen" ihrer Moralprinzipien als illusorisch betrachten, müssen wir auch das
"Wissen" unserer Moralprinzipien als illusorisch betrachten. 8f. => Es ist ein Fehler zu glauben, daß wir
wissen, daß unsere Moralprinzipien wahr (bzw. universell gültig) sind. 9. => Es gibt kein Wissen universell gültiger Moralprinzipien. Argument gegen die Existenz universell
gültiger Moralprinzipien (und für den metaethischen Kulturrelativismus) 10. Die Annahme, daß es universell gültige
Moralprinzipien gibt, die wir aber nicht erkennen können, ist absurd. 11. => Es gibt keine universell gültigen Moralprinzipien. 12. => Alles, was man über Moralprinzipien wissen kann, ist, daß
bestimmte Prinzipien in bestimmten Kulturen akzeptiert werden. Argument gegen den Ethnozentrismus (und
für den normativen Kulturelativismus?) 13. Es ist ein Fehler, unsere Moralprinzipien auf
andere Kulturen anzuwenden, die diese Prinzipien nicht akzeptieren. |
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Ergänzende Texte: 1. James
Rachels: Widerlegung eines einfachen Argumentes für den Kulturrelativismus The Cultural
Differences Argument Cultural Relativism is a theory about the nature of morality. At first
blush it seems quite plausible. However, like all such theories, it may be
evaluated by subjecting it to rational analysis; and when we analyze Cultural
Relativism we find that it is not so plausible as it first appears to be. The first thing we need to notice is that at the heart
of Cultural Relativism there is a certain form of argument. The strategy
used by cultural relativists is to argue from facts about the differences
between cultural outlooks to a conclusion about the status of morality. Thus
we are invited to accept this reasoning: (1) The Greeks
believed it was wrong to eat the dead, whereas the Callatians believed it was
right to eat the dead. (2) Therefore,
eating the dead is neither objectively right nor objectively wrong. It is
merely a matter of opinion, which varies from culture to culture. Or, alternatively: (1) The Eskimos see nothing wrong with infanticide,
whereas Americans believe infanticide is immoral. (2) Therefore,
infanticide is neither objectively right nor objectively wrong. It is merely a
matter of opinion, which varies from culture to culture. Clearly, these arguments are variations of one fundamental idea. They
are both special cases of a more general argument, which says: (1) Different cultures have different moral codes. (2) Therefore, there is no objective "truth" in morality.
Right and wrong are only matters of opinion, and opinions vary from culture to
culture. We may call this the Cultural
Differences Argument. To many people, it is very persuasive. But from a
logical point of view, is it a sound argument? It is not sound. The trouble is that the conclusion does not really
follow from the premise - that is, even if the premise is true, the conclusion
still might be false. The premise concerns what people believe: in some societies, people believe one thing; in other
societies, people believe differently. The conclusion, however, concerns what really is the case. The trouble is
that this sort of conclusion does not follow logically from this sort of
premise. Consider again the example of the Greeks and Callatians. The Greeks
believed it was wrong to eat the dead; the Callatians believed it was right.
Does it follow, from the mere fact that
they disagreed, that there is no objective truth in the matter? No, it does not follow; for it could be that the practice was objectively right (or wrong) and
that one or the other of them was simply mistaken. To make the point clearer, consider a very different matter. In some societies,
people believe the earth is flat. In other societies, such as our own, people
believe the earth is (roughly) spherical. Does it follow, from the mere fact that they disagree, that there is no "objective
truth" in geography? Of course not; we would never draw such a conclusion
because we realize that, in their beliefs about the world, the members of some
societies might simply be wrong. There is no reason to think that if the world
is round everyone must know it. Similarly, there is no reason to think that if
there is moral truth everyone must know it. The fundamental mistake in the Cultural
Differences Argument is that it attempts to derive a substantive conclusion
about a subject (morality) from the mere fact that people disagree about it. It is important to understand the nature of the point that is being made
here. We are not saying (not yet,
anyway) that the conclusion of the argument is false. Insofar as anything being
said here is concerned, it is still an open question whether the conclusion is
true. We are making a purely logical
point and saying that the conclusion does not follow from the premise. This is important, because in order to
determine whether the conclusion is true, we need arguments in its support.
Cultural Relativism proposes this argument, but unfortunately the argument
turns out to be fallacious. So it proves nothing. (James Rachels (1993): The Elements of Moral Philosophy, New
York, 2. Aufl., S. 18-20) 2. E. J. Bond:
Widerlegung eines einfachen Argumentes für den Kulturrelativismus Simple Cultural Relativism There is a simple form of cultural relativism which derives from the
ethnologists of the earlier part of the twentieth century, William Graham
Sumner, Ruth Benedict, Edward Westermarck, and Margaret Mead. Their argument is
as simple as this: Premise:
Accepted norms of conduct vary from culture to culture Conclusion: Therefore, morality varies from culture to culture From simply observing the difference in the kinds of behavior that are
approved of or disapproved of in different cultures, they derived the conclusion
that morality was entirely relative to culture. Questions of good and bad,
right and wrong, could be settled only by reference to cultural or community
standards or they could not be settled at all. There was nothing else objective to appeal to. Furthermore,
this was announced as if it were a new discovery, although cultural relativism
was a commonplace among the educated in Plato's time, and was famously taught
by the sophist Protagoras. Unfortunately, however, the argument as it stands is no good. We cannot
derive the conclusion from the premise. What makes the argument seem sound is that it contains a
suppressed or unstated premise, namely that morality consists in following accepted norms of conduct. Now when, in
an argument, a premise is left out (unstated, suppressed), as not being
necessary for the argument to be convincing, that is nearly always because the
unstated premise is thought to be so obvious that there is no need to state it. This is certainly what
has happened here. The full argument, including the suppressed or unstated
premise, is the following: Premise
1: Accepted norms
of conduct vary from culture to culture [Premise 2
(unstated): Morality (being moral or good) consists in following accepted
norms of conduct] Conclusion:
Morality varies from culture to culture The argument is obviously valid. "Valid" is a technical term in logic
which means, when applied to an argument, that the conclusion follows logically
from the premises. What this means is
that you cannot affirm or assert the premises and then go on to deny the
conclusion without contradicting yourself, and that means that if the premises are true the conclusion must be true. For to affirm or assert
something is to say that it is true, and
so, when the conclusion follows logically
from the premises, we must, if we take the premises to be true, accept the
truth of the conclusion as well. Why? Because if we don't, we will have
contradicted ourselves. What this means for us, here and now, is that if
premise 1 and premise 2 are true, then necessarily
the conclusion is true, and the case for cultural relativism in ethics has
been proven. Now let's examine this argument for cultural relativism step by step.
First of all, no one in her right mind would challenge the truth of premise 1.
Accepted norms of conduct certainly do vary from culture to culture and, for
that matter, from subculture to subculture within a complex culture such as our
own. But, because the argument is valid, if we go on to accept premise 2 we are
forced to accept the conclusion. The
only way to escape is to challenge premise 2, in the hope that we can show it
to be false, and that is exactly what I now propose to do. There are two
different ways of looking at this second premise: we can interpret it as definitional, as saying that "being
moral" ("morality") simply means "following
accepted norms of conduct," or we can read it as a substantive moral claim saying,
in effect, that if you want to be morally good you must conform to the norms of
conduct of the culture you inhabit, and if you fail to conform to these norms
then you are morally bad. These two interpretations of the second premise are quite different. Let
us consider the first possibility, namely that it is true by definition. If
"morality" or "being moral" or "being good" simply meant "conforming to accepted practices" or "doing the done thing"
(following accepted norms of conduct), then no one could challenge any of the
norms of her or his culture or subculture without
contradicting herself or himself. For on this reading of premise 2, it is
established by definition that
something is good if it conforms to the accepted norms, and bad if it does not. I would therefore be
contradicting myself if I said: "I know this is an accepted norm of conduct,
but I believe it to be wrong." But it is perfectly obvious that such remarks
are not self-contradictory. And whatever we think of the would-be moral
reformer, there is nothing wrong with his or her understanding of the meanings
of words! Somebody getting ready to heave a stone at the adulteress might have
thought that Jesus (Rabbi Yeshua) was a bit weird when he said (assuming the
Bible story to be true): "He that is without sin among you, let him first cast
a stone at her." After all it was (according to the story) a norm of conduct
and an accepted social practice and (again according to the story) the rabbi
obviously knew that - but no one would have thought he was contradicting
himself, even though he was saying, in effect, that the practice was wrong and
should be done away with. It cannot be true by definition that to be morally
good is to do the done thing and never to do anything that is not done. Now let's consider the second way of interpreting premise 2, that is as a
substantive moral claim, namely that
the way to be moral or good is to conform to accepted social practices. Notice
it is no longer being claimed that this is true by definition; rather, it is taken as telling us how we must behave
if we are to be moral or good. The moral reformer is no longer contradicting
herself or himself; now he or she is simply mistaken if she claims that there
is something morally wrong with some accepted social practice, or that there is
a practice that should be introduced because
it would be morally good, or morally better than some present practice.
However, this is nothing but pure moral conservatism, and no argument for it
has been offered. In fact, we have been given no reason at all to believe it.
Apparently, we are supposed to accept it as being obviously true or, as
philosophers say, self-evident! The rabbi wasn't contradicting himself he
simply didn't see that to be morally good is to do the done thing and to avoid
doing what is not done. But moral conservatism (extreme conformism) is plainly not self-evidently true. The accepted
practice or, to use the ethnologists' word, the mores of a culture can be
criticized from within, and on moral grounds.
It is obviously not self-contradictory to say, from within a culture in which
slavery is an accepted institution or practice: "Slavery should be abolished
because it is morally wrong; human beings should not be bought and sold or be
merely used for their owners' purposes; human dignity forbids such
exploitation." It is equally plain that it is not self-evidently false simply
because it is made from within a slave culture. We must, therefore, be able to
appeal to something other than accepted practices in making our moral
judgments. But the argument is even worse than this. For if premise 2 is taken not
to be true by definition, but as telling us what
we all must do if we want to be morally good (namely, follow the accepted
social practices of the culture in which we happen to be located), then it has
to be a moral principle that is not relative
to culture. It is clearly transcultural, i. e. it cuts across all
cultures, applying in all times and places, and is not relative to any
particular one. What it says, in effect, is "Always do the done thing, whatever
that may be, in the place you happen to be" or "When in Rome, do as the Romans
do," and this can only be a universal or "absolute" principle of morality,
applying to all persons at all places and times. But what was the argument
trying to disprove? Precisely the possibility of there being any such universal principles! Thus the argument undermines
itself by taking as a premise something that contradicts the conclusion! We
cannot use a universal moral principle as part of an argument for cultural
relativism in ethics since, if cultural relativism is true, there are no universal moral principles! Of course, none of this proves that cultural relativism (the conclusion
of the argument) is false. It only shows that this particular argument for it
is no good, and so if we are going to try to show that cultural relativism is
true, we will have to produce a better argument than this. And if there is no
better argument, or if no better case can be made, then we have no reason for accepting it. (E. J. Bond (1996): Ethics and Human Well-being. An Introduction
to Moral Philosophy, Oxford, S. 22-25) 3. John Leslie
Mackie: Argument gegen die Objektivität der Moral Das
Argument aus der Relativität Das Argument aus der
Relativität nimmt seinen Ausgang von der allgemein bekannten Tatsache der
Verschiedenheit moralischer Regelsysteme sowohl von Gesellschaft zu
Gesellschaft als auch von einer Epoche zur anderen, schließlich noch von der
Tatsache unterschiedlicher moralischer Überzeugungen der verschiedenen Gruppen
und Klassen innerhalb ein und derselben Gesellschaft. Diese Verschiedenheit
als solche ist ein bloßes Datum der deskriptiven Ethik, eine anthropologische
Tatsache, die weder ethische Auffassungen erster noch solche zweiter Ordnung
in sich einschließt.[2]
Dennoch ist sie geeignet, einen Subjektivismus zweiter Ordnung indirekt
argumentativ abzusichern: Die Tatsache grundlegender Unterschiede hinsichtlich
sittlicher Überzeugungen erster Ordnung macht es schwierig, solche
Überzeugungen als Einsichten in objektive Wahrheiten zu deuten. Dennoch spricht das bloße Bestehen solcher Meinungsverschiedenheiten
als solches noch nicht gegen die Objektivität sittlicher Werte. Denn auch
Meinungsverschiedenheiten in historischen, biologischen oder kosmologischen
Fragen beweisen nicht, daß es für diese Wissenschaften keine objektiven
Sachverhalte gibt, um die sich dann der Meinungsstreit dreht. Eine
Meinungsverschiedenheit in naturwissenschaftlichen Fragen ergibt sich
gewöhnlich aus spekulativen Schlußfolgerungen oder Erklärungsversuchen, die
sich auf (noch) unzulänglich erforschte Daten stützen;
Meinungsverschiedenheiten in moralischen Fragen aber lassen sich kaum in
dieser Weise erklären. Denn unterschiedliche moralische Überzeugungen
scheinen sich aus unterschiedlichen Formen der Lebensgestaltung zu ergeben.
Die ursächliche Verknüpfung scheint gewöhnlich folgender Art zu sein: Man ist
von der sittlichen Angemessenheit der Monogamie überzeugt, weil man in
Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten die Monogamie lebt;
man lebt nicht die Monogamie, weil man von ihrer Angemessenheit überzeugt ist.
Natürlich kann es sich bei den akzeptierten sittlichen Regeln auch um
Idealisierungen der herrschenden Lebensformen handeln, aus denen sie entstanden
sind: Die von den Menschen tatsächlich gelebte Monogamie mag weniger vollkommen
und streng sein als die, von der sie aufgrund ihrer monogamen Lebensweise
überzeugt sind. Das heißt allerdings nicht, daß moralische Überzeugungen rein
konventionellen Charakters wären. Natürlich gibt es und hat es immer moralische
Ketzer und Reformer gegeben, d. h. Menschen, die sich aus moralischen Gründen,
und zwar aus solchen, die auch wir oft billigen, gegen bestehende moralische
Regeln und Lebensweisen in ihrer Gesellschaft gewandt haben. Doch läßt sich
diese Tatsache meist als eine ihrer Ansicht nach konsequente, obwohl neue und
unkonventionelle Anwendung von Regeln verstehen, die sie bereits als Ergebnis
einer bestehenden Lebensform für sich selbst übernommen haben. Kurz, das
Argument aus der Relativität gewinnt eine gewisse Plausibilität einfach aus der
Tatsache, daß sich die unbestreitbaren Unterschiede in den moralischen
Regelsystemen leichter mit Hilfe der Hypothese, in ihnen spiegelten sich die
unterschiedlichen moralischen Lebensweisen, erklären lassen als mit Hilfe der
Hypothese, in ihnen drückten sich die verschiedenen, meist unzulänglichen oder
mißlungenen Versuche, objektive Werte zu erfassen, aus. Bekanntlich wird gegen
dieses Argument gewöhnlich eingewandt, daß objektive Geltung nicht primär für
sehr spezifische moralische Regeln oder Regelsysteme beansprucht wird, sondern
für sehr allgemeine und grundlegende Prinzipien, die wenigstens implizit in
allen Gesellschaften anerkannt würden - für solche Prinzipien etwa, die die
Grundlage für das, was Sidgwick die verschiedenen Methoden der Ethik genannt
hat, bilden: das Prinzip der Universalisierbarkeit, die Regel, man solle immer
den spezifischen Regeln jeweils jener gesellschaftlichen Lebensform folgen,
nach der man selbst lebt, von der man sich Vorteile verspricht und auf die man
sich verläßt, oder irgendein utilitaristisches Prinzip, nach dem man seine
Handlungsweise danach ausrichten soll, was das allgemeine Wohl fördert oder zu
fördern verspricht. Es läßt sich leicht zeigen daß solche allgemeinen
Prinzipien unter unterschiedlichen konkreten Umständen, unter Voraussetzung
unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme und bei Setzung unterschiedlicher
Prioritäten zu voneinander abweichenden spezifischen moralischen Regeln
führen; daher ist die Überlegung, daß die auf diese Weise sich ergebenden
spezifischen Regeln von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Gruppe zu Gruppe
Wandlungen unterworfen sind, wie sie sich an den tatsächlichen Veränderungen
moralischer Regelsysteme beobachten lassen, keineswegs abwegig. Dennoch spricht dieser
Einwand nur zum Teil gegen das Argument aus der Relativität. Der ethische
Objektivist, der so verfährt, muß einräumen, daß eine objektive sittliche Qualität
unmittelbar nur jenen Prinzipien als deskriptiv klar umrissenen Sachverhalten
zukommt: Zwar können auch andere moralische Urteile objektiv gültig oder wahr
sein, jedoch nur abgeleitet und bedingt - wenn die Umstände andere wären, würde
auch anderes gelten. Außerdem sind trotz der Hervorhebung der Universalisierbarkeit,
utilitaristischer Prinzipien usw. in der neueren Ethik solche Prinzipien
weit davon entfernt, das Ganze von dem zu beschreiben, was üblicherweise
tatsächlich als für die Moral grundlegend angesehen wird. Weithin geht es auch
um das, was Hare ›Ideale‹ oder weniger freundlich als ›Fanatismus‹ bezeichnet;
d. h., wir Menschen beurteilen vielfach das eine als gut und richtig und das
andere als schlecht und falsch, nicht - oder wenigstens nicht nur - weil es
sich dabei um Schlußfolgerungen aus allgemeinen und weithin anerkannten
Prinzipien handelt, sondern weil irgend etwas daran in uns unmittelbar eine
bestimmte Reaktion hervorruft, obwohl bei anderen eine völlig entgegengesetzte
Reaktion hervorgerufen würde. Die Instanz, der wir unsere grundlegenden
moralischen Überzeugungen tatsächlich verdanken, läßt sich wohl viel eher mit
›moralischem Gefühl‹ oder ›moralischer Eingebung‹ beschreiben als mit
›sittlicher Vernunft‹. Bei Berücksichtigung all dieser Ausgangsdaten unseres
sittlichen Bewußtseins bleibt das Argument aus der Relativität unerschüttert.
(John Leslie Mackie (1977): Ethik. Die Erfindung des moralisch
Richtigen und Falschen,
durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Stuttgart 1983, S. 40-43. Original: Ethics. Inventing Right and Wrong,
Harmondsworth 1977, S. 36-38) [1] Vgl.
hierzu die ergänzenden Texte 1 und 2 auf diesem Handout. [2] Eine
Auffassung erster Ordnung ist eine Auffassung darüber, welche Handlungsweisen
richtig oder falsch, gut oder schlecht usw. sind. Eine Auffassung zweiter
Ordnung ist eine Auffassung darüber, ob Moralurteile wahr oder falsch sein
können, objektiv oder subjektiv sind usw. Die These des Kulturrelativisms, daß
Moralprinzipien nur relativ zu einer bestimmten Kultur gelten, ist eine
Auffassung zweiter Ordnung. |